Sonstiges

SPD, die Soldateska und das Netz

gestern bin ich bei Turi2 über einen Artikel gestolpert, der einen merkwürdigen aber wohl eher typischen Fall aus dem Parteileben beschreibt. Es geht um das SPD eigene Social Network namens „MeineSPD.net„. Wie auf anderen SNs auch, können die User eigene Foren einrichten. In dem Fall hatte Philipp Geldmacher dieses Feature genutzt und das Forum „Keine Zukunft mit Kurt Beck“ betitelt. Es war klar, was kommen musste: Der Betreiber hat das Forum entfernt.

Natürlich weiß ich jetzt nicht, ob es um Inhalte ging, die rechtlich bedenklich waren oder allg. um profane Kritik am Parteichef Beck. Was auch immer der Anlass war, es führt mich zu einer prinzipiellen Frage: Können Parteien nicht mit dem Netz und den damit verbundenen Möglichkeiten umgehen oder wollen sie nicht?

In zahlreichen Gesprächen mit Aktiven und zugleich Webworkern, die sich politisch engagieren, kommt klar eine Richtung zum Vorschein: Die Parteien wollen nicht! Wir reden dabei nicht von der Partei gesamtheitlich, sondern von den Lenkern und Verwaltern. Wenn ich eins in der Politik gelernt habe, so ist es der diskriminierende Zwang zum Parteigehorsam, der groteskerweise mehr an Militärs denn an demokratische Parteien erinnert. Wunderbares Beispiel, das nicht zu lange her ist: Was für ein Trara war das, als die Landtagsabgeordnete Dagmar Metzger erklärt hatte, ihre Chefin Ypsilanti nicht zur hessichen Landesmama wählen zu wollen. Statt Metzger zu ehren, ist sie bis heute Staatsfeindin No.1 für die SPD.


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Und dann muss man sich noch fragen, ob die Parteien nicht wollen oder können, was das Netz angeht? Dabei geht es mir nicht nur um die SPD. Ich bekomme exakt die gleichen Meinungen ob der Unwilligkeit auch über andere Parteien zu hören. Selbst die ach so demkratischen Grünen sind keinen Deut moderner. Bloß die Kontrolle nicht verlieren. Man hat zu funktionieren und nicht im Netz ein eigenes Profil mit einem eigenen Kopf zu entwickeln. Kritik an der Partei? Öffentlich? Ketzer! Verbrennt sie!

Nur, drehen wir es um. Ich bin politisch in keiner Partei tätig, weil ich auf diese Küssen von Hintern keine Lust habe. Insofern bin ich als Außenstehener nur zu einer Meinung berufen. Mehr nicht. Dennoch die Frage an Euch: Was tun die Parteien Eurer Meinung nach im Netz, wieso wirkt das so stümperhaft oder ist das gar nicht so? Wozu braucht die SPD überhaupt ein Social Network? Wozu brauchen die Parteien das Netz? Brauchen die Parteien mehr Soldateska oder wollen sie wie immer nur gehorsame Soldaten?

Über den Autor

Robert Basic

Robert Basic ist Namensgeber und Gründer von BASIC thinking und hat die Seite 2009 abgegeben. Von 2004 bis 2009 hat er über 12.000 Artikel hier veröffentlicht.

32 Kommentare

  • Schade dass Du beim WordCamp die Session mit Michael Neumann (www.neumann-hamburg.de) verpasst hast. Wäre zwischen Euch sicherlich eine interessante Diskussion geworden.

  • Ich glaube dass diese ganzen Onlineangebote der Parteien nur Alibiaktionen sind. Soll heißen: In Zeiten, in denen junge Menschen das Gefühl haben, von einer Horde greiser realitätsferner regiert zu werden, brauchen die Parteien solche Angebote, um ein wenig moderner daherzukommen. Leider setzt sich dort niemand so richtig mit der Thematik auseinander.
    Natürlich sind SNs ein Risiko, aber wer darin zensiert schaufelt sich das eigene Grab. Wenn man stattdessen selbst auf unangemessene Kritik aufgeschlossen, angemessen und bestimmt reagiert, kann man solche destruktiven beiträge für sich nutzen. Das setzt allerdings eine gewisse Motivation voraus, sich mal mit solchen Vorgängen zu beschäftigen 😉

  • […] Nun trug es sich zu, dass ein Nutzer dieses Netzwerks – auch Mitglied der Partei – ein Forum auf meineSPD.net eingerichtet hat mit dem Titel „Keine Zukunft mit Kurt Beck“. Das Forum wurde gelöscht mit der Begründung, es wäre diffamierend und diese Meldung schlägt sich sowohl in den Medien wie auch in den Blogs nieder. […]

  • weil ich auf diese Küssen von Hintern keine Lust habe

    Vermutlich aber nur, wenn es im übertragenen Sinne gemeint ist, oder? 😀

  • Es ist noch zu früh und die Parteien sind zu groß und die klassischen Medien sind noch wirkmächtig genug, während wir „Early Adopter“ zu ungeduldig sind. Das ist das eine.
    Andererseits ist es für Politik und Parteien derzeit wohl tatsächlich irrational, ins Netz zu gehen. Sie könnten damit nicht umgehen. Das könnte heißen: Eigentlich brauchen die Parteien das Netz nicht. Wenn sie es gebrauchen – irgendwann – wird es sie, die politische Kommunikation, politische Kultur und möglicherweise auch die Institutionen nachhaltig verändern.

  • Ich denke, man muss den Parteien da Luft zum Atmen lassen. Als meineSPD.net begann, war ich auch skeptisch und habe auch nach wie vor meine Probleme, darüber zu diskutieren. Allerdings hat es genügend Genossen, die bisher überhaupt nicht online diskutieren, dazu gebracht, sich daran zu beteiligen. Das ist dann doch schon eine Sache, was eine Partei ausmacht. Sicherlich ist meineSPD.net auch weiterhin ein Stück Experimentierfläche, aber das darf es ruhig bleiben.

    Die Sache mit der Zensur sollte man so betrachten, wie sie ist. Der Hausherr ist der Bundesvorstand und der macht nachweislich einiges in den Diskussionsforen mit, die anderen Leuten schon massiv gegen den Strich gehen würden. Da zu meineSPD.net aber ausdrücklich auch Nicht-Genossen zugelassen ist, ist ein gewisses Mass an Reglementierung durchaus gegeben. Es gibt im übrigen genügend andere Diskussionsstränge in meineSPD.net, die sich kontrovers mit der Parteiführung beschäftigen, aber noch eine Bodenhaftung haben.

  • @Bodenseepeter: Zahlreich sind sie oder sind wir vielleicht und die Aktion in Österreich ist toll, keine Frage. Ich schrieb ja von Ungeduld. Parteien, gerade die großen, sind nun einmal bedächtig, wägen ab, bevor sie Geld und Personal irgendwo reinstecken, schauen, ob das nicht alles bloß kurzlebige Trends sind und haben vor allem nicht die notwendige Expertise in den eigenen Reihen, die sie davon überzeugt, dass es eben keine kurzlebigen Trends sind. Das sieht in der Außenwahrnehmung natürlich nach ärgerlicher Langsamkeit und Behäbigkeit aus.

  • Ich kann es von drinnen nur von den Grünen beurteilen – und da erlebe ich es anders. In den Diskussionsforen und -listen wird da sehr offen und teilweise jenseits der Schmerzgrenze diskutiert, zugleich gelingt es immer wieder, die Mitglieder innerhalb sehr kurzer Zeit für Onlineaktionen zu mobilisieren (beispieslweise als die Hamburger CDU ein Votingtool auf ihrer Seite hatte, von dem sie hoffte, es werde für das Viergliedrige Schulsystem ausfallen – und nach zwei Stunden das „Ergebnis“ so sehr gedreht war, dass sie die Aktion offline nahmen). Wenn du dir dann anguckst, wie unterschiedlich allein die Grünen, die bloggen oder twittern, sind, kann ich die Verallgemeinerung nicht teilen.

    Andererseits – sozusagen mein ceterum censeo in dieser Frage, das ich in jedem Interview zurzeit von mir gebe – überrascht mich die Zurückhaltung nicht, so lange das Internet in D von den Leitmedien als Gefahrenthema behandelt wird und zumindest bei den beiden etwas größeren Parteien der Aufbau sehr lokal geprägt ist, was online nur mittelbar abgebildet werden kann.

    Ein Punkt zum Gehorsam: Ich bin politisch nicht besonders aktiv, war es aber in verschiedenen Konstellationen schon in der Vergangenheit – und denke, dass das, was du als Gehorsam beschreibst, aus der Innensicht Aktiver eher etwas ist, das mit innerparteilichen Koalitionen zusammenhängt: Wenn ich die Solidarität für mein Thema von meinen Freunden will, auch wenn die nur halb überzeugt davon sind, muss ich auch bereit sein, ihnen solidarisch gegenüber zu sein bei ihren Themen. Denn – das lernt man recht schnell schon auf der untersten vorpolitischen Ebene wie Schülervertretungen oder Kirchenvorständen: Ohne Koalitionen (oder Seilschaften oder wie auch immer) werde ich nichts (in Worten: NULL) durchsetzen können. Das betrifft nicht nur Parteien….

  • „Wozu braucht die SPD überhaupt ein Social Network?“ Hallo? Die SPD *ist* ein soziales Netzwerk und das seit ca. 145 Jahren. Da liegt es doch nur nahe, dieses Netzwerk auch auf das Web auszuweiten. Warum das so zag- und mangelhaft passiert, weiß ich nicht – dafür bin ich wohl schon zu lange nicht mehr Insider genug. Ich finde es aber allgemein sehr bedauerlich, dass die Parteien hier nicht mehr auf die Reihe bekommen. Denn im Gegensatz zu Unternehmen haben sie ja umfangreiche Erfahrungen aus der realen Welt mit mehr oder weniger offenen Strukturen, und besonders der Sozialdemokratie kann man eine gewisse Diskussionsfreude und Toleranz gegenüber Kritikern nicht absprechen.

  • Welches *corporate blog*würde eine Thema veröffentlichen lassen mit „Firmenprodukt X ist sch… – ist nur meine Meinung“ ?

    Es ist schon originell,wenn einerseits die Möglichkeiten von Blog&Forum gesehen werden, andererseits bereits auf Schülervertreterebene(!) das Mauscheln aka Seilschaften und Fraktionen als ganz selbstverständlich betrachtet wird. :-))

    Ich finde diesen Realitätssinn sehr erfrischen, zeigt er doch offen, daß „Diskussion“ oder gar „Wahrhaftigkeit“ im Grunde völlig gleichgültig sind. Eine Metzger ist nicht deshalb persona non grata geworden, weil sie eine andere Meinung hat, sondern weil sie die Partei in eine schwieirge Situation gebracht hat (und einige beziehen jetzt keine Ministergehalt !).

    In der Politik geht es um Macht und Einfluß. Blogs, Foren, Online-Partisanen-Aktionen sind da nur Mittel zum Zweck … da geht es nicht um das Ringen um Erleuchtung und schon gar nicht um „herrschaftsfreien Diskurs“. 😉

  • M.E. ging es eher um die Wortwahl.

    Ein Forum mit dem Titel „Keine Zukunft mit Kurt Beck“ kann man schon als Versuch der Diffamierung sehen.

    Zudem ist er zunächst aufgefordert worden, den Titel und die Beschreibung zu ändern.

    Hätte er also einen Titel gewählt, der eher zu einer Diskussion führt z.B. „Ist Kurt Beck ein guter Parteivorsitzender?“ hätte es keine Probleme mehr gegeben.

    Etwas ähnliches ist auch mir passiert (ich bin dort auch zeitweise aktiv). Ich habe ein Forum mit dem Titel „Stoppt die Seeheimer“ online gestellt. Auch dies stieß auf Kritik und ich wurde aufgefordert das zu ändern.

    Jetzt heißt es halt: „Über die Seeheimer in der SPD“ . Kritik gegenüber den Seeheimern zu unterlassen, dazu wurde ich nicht aufgefordert.

    Alles in allem, halte ich meineSPD.net von der Diskussionskultur her, für eher gelungen. Da wird durchaus aus sehr kritisch und kontrovers in verschiedenen Foren diskutiert – von den Chancen für ein neues SPD Verbotsverfahren, bis hin zum bedingungslosem Grundeinkommen.

  • Gut, einiges müsste man auch der SPD verbieten (ihren Mitgliedern z.B. Flüchtigkeitsfehler).

    Gemeint ist aber eine andere Partei mit einem N statt einem S.

  • Zu deinem Bild wie es in Parteien zugeht möchte ich eigentlich nichts groß sagen. Ich finde es nur schade, dass du offensichtlich wirklich glaubst, dass alle Menschen die in Partein aktiv sind, gelinde gesagt „A……..“ sind. Zumindest transportierst du es so.

    Der Hinweis weiter oben, dass Parteien schon immer Social Networks waren, nur eben ohne Internet ist richtig. Sollte man mal darüber nachdenken.

    Mit meineSPD.net versucht die SPD ein Portal und SN aufzubauen um ihre Mitglieder besser zu vernetzen. Auch um besser Kampas zu fahren, logisch. Hubertus Heil dürfte da mit Blick auf die USA und die nahende Bundestagswahl so seine Hoffnungen haben.
    MeineSPD.net ist auch für Nichtmitglieder offen. Als Mitglied hat man nur zusätzlich Zugang zu einigen Dokumenten und FAQs (z.B. Der GEMA Vertrag der SPD usw.). Ansonsten wird alles brüderlich geteilt. Die Forendiskussionen sind teilweise heftig. Die Blogs kontrovers. Das ist nichts neues für die SPD – die SPD ist eine Programmpartei und das heißt übersetzte. Es wird dauernd gestritten *g* (Ich sehe das aber positiv).
    Aber irgendwo muss man halt auch die Grenze setzen. Wenn in MeineSPD.net ein Beitrag erscheint „Stürzt Beck“ (war ja quasi ein Forum in dieser Form) kann man das mit einem Artikel in der Parteizeitung Vorwärts vergleichen (Denn beides gehört der Partei und untersteht ja dem Parteichef selbst.)
    Bedenkt man die Hinweise weiter oben (Titeländerung hätte gereicht), dann sehe ich das ganze eher entspannt.

    Einen Punkt möchte ich noch ansprechen. Oben wurde öfters die Meinung geäußert, dass das Internet keine Rolle für Parteien spiele, nur alte Menschen die uns regieren und nichts davon verstehen usw. ect.

    Die Parteien und ihre Strategen denken sicher intensiv über das Medium Internet nach. Nur überlegt Euch mal selbst: Was macht ein Durchschnittsnutzer im Netz so. Die meisten hier sind ja starke Nutzer des Internets und Blogger dazu. Unser Onlineverhalten ist durchaus von Otto-Normal-User zu unterscheiden.

    Parteien brauchen aber nicht nur grenzenlosen Cyberspace um Wahlen zu gewinnen. Wichtiger ist der Kontakt vor Ort!
    Wenn ihr mich fragt, wer mich bei der letzten Gemeinderatswahl gewählt hat, dann sicher kein Blogleser aus Hamburg. Die Blogleser aus dem Ort? Vielleicht, aber das sind dann 3-5 Personen… Ich denke ihr versteht worauf ich hinaus will.
    Web 2.0 + Politik ist für manche Kampas sicher sinnvoll. Für normale Parteiarbeit kann es aber nur eine Ergänzung sein. Lasst Euch auch nicht von Obama blenden. wir haben starke Parteien. Man kann sich leicht an eine Person anbinden, aber eine amorphe Masse namens Partei kann man schlechter als Profil im Netz verkaufen…

  • „Gemeint ist aber eine andere Partei mit einem N statt einem S.“

    Naja, so ein SPD-Verbot hätte ja auch was für sich. Und wenn das sogar schon SPDlern rausrutscht … Freud, ick hör Dir labern. 😉

  • Das stand nicht nur bei der BILD. 🙂
    Ich nehme es der SPD nicht übel den Störer zu kicken, selbst schuld, wer auf SPD-Platformen publiziert. Und Beck muss doch wenigstens in einem einzigen Inhaltsangebot sakrosankt sein, der Arme.

  • Ich denke Partein und Verbände, Vereine haben ein Problem. Sie tauschen demokratische Prozesse und Strukturen gegen Parteidisziplin.

    D.h. man wählt Personen, Strategien und Ziel und danach setzt man das was da raus gekommen ist um.

    Parteidisziplin schwindet nun ja schon seit Jahren, mit dem Ergebnis, dass kein vernünftiger Mensch sich den Blödsinn noch antut. Ergo Politiker werden schlechter.

    Die Web2.0 beschleunigte Verfall wird diesen Trend beschleunigen.

  • […] Vorgang wird mittlerweile auch in der Blog-Szene rege diskutiert, etwa bei Robert Basic, Wolf Witte. Merle um 16:03 Keine Kommentare | Permalink | Trackback URL  Mein Kommentar […]

  • Ich blogge überwiegend kritisch über meine Partei und habe bisher (trotz einer gewissen parteiinternen Strahlkraft) keine Zensurversuche meiner Grünlinge wahrnehmen können. Selbiges gilt auch für sämtliche mir bekannte Grünblogger, angefangen bei der Zeitrafferin bis runter zu den kleinen Blogs der Grünen Jugend.
    #19
    Die SPD eine Programmpartei? Demnächst wieder?

  • Der Marionettenspieler
    Aus der Deckung heraus ab und zu am richtigen Faden ziehen, bis alle Figuren am richtigen Platz stehen — bei Johannes Kahrs (SPD) hat diese Kunst ganz neue Dimensionen erreicht. Die Genossen gucken paralysiert zu. Was ist da eigentlich los?

    Text: Christopher J. Peter

    Ein nussbrauner Tisch vor roten Wanden. Sechs Jugendliche lümmeln sich auf hellen Holzstühlen und wirken etwas verloren in dem 40 Quadratmeter großen Raum im Burgertreff Stellingen. Die Neugründung einer linken Juso-Gruppe steht an, die erste seit Jahren. Da stürmen zwanzig weitere Jungsozialisten unter dem Banner ihres Hamburg-Chefs Daniel llkhanipour die Versammlung und verlangen lautstark Stimmrecht. Das schüchtert ein.
    „Ich will hier wählen. Ich bin hier wahlberechtigt“. tönte Ilkhanipour laut Protokoll. Das ist falsch, da er bereits Mandatsträger in Harvestehude ist und genau deshalb nicht in Stellingen wählen kann. „Kommunismus pur. Schlimmer als zu SED-Zeiten*, pöbelt Ilkhanipour, eine Louis-Vuitton-Umhängetasche baumelt über der Schulter. in seinem Hemd steckt ein seidenes Anstecktuch. Nach tumultartigen Szenen wird die Wahl abgebrochen. Noch auf dem Parkplatz vor dem Bürgertreff hüpft er laut schreiend auf und ab und brüllt _Stellinger sind Wahlbetrüger.‘
    ***
    Eine Problemanalyse der Hamburg-SPD ist ohne Kahrs nicht moglich.
    ***
    Der fragwürdige Auftritt des neuen Bundestagskandidaten der SPD Eimsbüttel ist gerade einmal ein halbes Jahr alt Streit und Flügelkämpfe gehören in die Politik wie Sand in die Wüste. Doch in Hamburg scheinen einzelne Körner das Machtgetriebe der Sozialdemokraten dauerhaft zu blockieren. Statt die schwarz-grüne Landesregierung vorzuführen, betreiben die Sozialdemokraten ihre seit Jahrzehnten gepflegte Lieblingsbeschäftigung – die Selbstzerfleischung – in einer noch nie da gewesenen Qualität
    So auch erst vor wenigen Monaten bei der Suche nach den Kandidaten zur Bundestagswahl 2009. Als einer der führenden Vertreter der bundesweiten SPD-Linken und profilierter Außenpolitiker vertritt Niels Annen seit 2005 den Wahlkreis Hamburg-Eimsbüttel als direkt gewählter Kandidat im Bundestag. Im Herbst kam die böse Überraschung. Mit hauchdünner Mehrheit von 45:44 setzte sich Ilkhanipour gegen Annen durch

    Durch einen „generalstabsmäßigen“ Auftritt von angekarrten Jusomitgliedern“ habe der Juso-Chef Ilkhanipour in den Distrikten seine Truppen zu Delegierten gemacht, ohne dass offensichtlich war, dass er selbst Kandidat sein würde, kritisiert nicht nur der inzwischen zurückgetretene Kreis-Chef Jan Pörksen. Erst als er seine Mehrheit gefestigt hatte, gab Ilkhanipour sine Kandidatur bekannt.
    Man könnte den Konflikt glatt als nickelige Lokalposse abtun, wären nicht zentrale Figuren der Führungsebene der Bundes-SPD zentrale Akteure in dem Politdrama.
    Auf der einen Seite der jetzt abservierte prominente Partei-Linke Niels Annen. Auf der anderen Seite Johannes Khars. Der begnadete Strippenzieher, Sohn einer Bremer Senatorenfamilie, ist nicht nur Chef der SPD in Hamburg-Mitte, sondern ob seiner brachialen Art auch als Sprecher des Seeheimer Kreises, des rechten SPD-Flügels, im Bundestag gefürchtet.
    Eine Problemanalyse der Sozialdemokratie an der Elbe ist ohne Kahrs nicht möglich. Die meisten Jusos sind auf seine Linie eingeschworen. Wer Karriere machen will pariert. Der 46jährige Reserveoffizier mit zackigem Kurzhaarschnitt und einem Talent zum Organisieren von Mehrheiten gilt als heimlicher Marionettenspieler hinter vielen parteiinternen Konflikten. Ihm wird vorgeworfen, schleichend die Übernahme des Hamburger Landesverbandes vorzubereiten. Ein Instrument soll dabei der gerade erst 27 Jahre alte Ilkhanipour sein, der ein Jahr für ihn gearbeitet hat.
    Selbst die ehemaligen SPD-Bürgermeister Ortwin Runde und Henning Voscherau sprechen von „Hinterlist“ und „Betrug“ und davon, dass es Johannes Kahrs zuzutrauen sei, im Hintergrund die Fäden gezogen zu haben. Für die Bürgerschaftsabgeordnete Carola Ensslen ist der Vorgang dann auch „der Höhepunkt einer gezielten Unterwanderungsstrategie, die mit den Jusos begonnen habe und nun die Partei ergreift.“

    Der qualitative Unterschied zu den Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte besteht in einem Machtanspruch. der etablierte Grenzen ignoriert. Galt zwischen den Parteiflügeln bisher das Motto: „Ihr habt euren Kahrs, wir unseren Annen“, entwickelt sich aus dem ursprünglichen Geben und Nehmen ein Alles oder Nichts. Dass nun ausgerechnet mit Ilkhanipour ein langjähriger Kahrs-Zögling den Wahlkreis Eimsbüttel übernimmt, bringt die seit Jahrzehnten eingespielte und respektierte Links-Rechts-Arithmetik in Hamburgs SPD gewaltig durcheinander.
    Spricht man mit Leuten aus dem Kreisvorstand Eimsbüttel und anderen Parteioberen, so schwingt Angst mit. Ein banges Zittern der Politiker darum, wer der nächste sein konnte, die Furcht davor, mit seinem Namen offen gegen Johannes Kahrs vorzugehen, gepaart mit immer neuen Schreckensgeschichten über die angebliche Fähigkeit des Verbindungsstudenten, innerparteiliche Gegner mürbe zu machen Die Sorge ist nicht ganz aus der Luft gegriffen.
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    Telefonterror als Mittel der politischen Auseinandersetzung?
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    „Ich krieg dich, du Schlampe!“ Monatelange nächtliche Drohanrufe dieser Art brachten 1992 die linke Juso-Landesvorsitzende Silke Dose regelmäßig um den Schlaf. Von der Polizei ließ sie eine Fangschaltung legen Sie vermutete einen Stalker. Irrtum. Den Ermittlern ging ihr lieber Parteifreund Johannes Kahrs ins Netz.

    Daraufhin forderten über 50 hochkarätige Hamburger Sozialdemokraten Kahrs auf, von „sämtlichen Ämtern und Mandaten“ zurückzutreten und „zu prüfen, ob er einen weiteren Verbleib in der SPD (..) für sinnvoll hält‘. Er hielt es und überstand die Telefon-Affäre nahezu unbeschadet.

    Das Gerichtsverfahren, für das Kahrs den späteren Bürgermeister Ole von Reust (CDU) als Anwalt nahm, wurde gegen eine Buße von 800 Mark eingestellt Der Rechtsausleger der SPD gilt als Mann der harten Bandagen. der kein Mittel im politischen Machtkampf scheut Auch den Vorwurf, eine Juso-Wahl in Bremen manipuliert zu haben. konnte Kahrs nicht entkräften – der Urnengang musste wiederholt werden.
    Nach einem Bericht der Zeitschrift BISS speichert er im Computer angeblich sogar die politische Gesinnung von SPD-Mitgliedern. Eine Augenzeugin: „Linke bekommen ein Sternchen, Rechte bleiben sauber.‘ Ausgehend von seiner Machtbasis. den auf ihn eingeschworenen Jusos im Bezirk Mitte. bereitete Kahrs unbeirrt Stück für Stück seine weitere Karriere vor.
    Gerade erst 34 Jahre alt, entriss der gewiefte Taktiker dem renommierten Inken Außenpolitiker Freimut Duve 1998 das Bundestagsmandat Die Parallele zum aktuellen Fall Ilkhanipours ist frappierend. Ebenso wie sein Zögling(Ilkhanipour) gab Kahrs seine Kandidatur erst kurz vor der parteiinternen Wahl bekannt, als er sich durch seine Jusos schon die Mehrzahl der Delegiertenstimmen gesichert hatte.
    Als Kahrs 2002 Kreis-Chef von Mitte wurde, trat er in die Fußstapfen von Bausenator Eugen Wagner, seinem politischen Mentor. Doch während Wagner, der jahrzehntelang Wortführers des rechten SPD- Lagers war, auf den Ausgleich und Absprachen setzte, hatte Kahrs weitergehende Ziele
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    Feindliche Übernahme traditionell linker Kreisverbände
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    „Bereits 2003 haben die Kahrs-Anhänger erste Jusogruppen bei uns in Eimsbuttel ubernommen“, so ein Mitglied des dortigen Kreisvorstandes, das ungenannt bleiben möchte. Während in ganz Hamburg immer mehr Jusos des sogenannten rechten Lagers zuerst die Jugendorganisation übernahmen und anschießend nach politischen Ämtern in der Partei strebten, schob Eimsbüttel dem Übernahmeversuch erst einmal den Riegel vor. Mit einer Verzweiflungsstrategie
    „Da wir nicht genug Nachwuchs mobilisieren konnten, lösten wir einfach unsere Jusogruppen auf“, so das Kreisvorstandsmitglied. „Neugründungen konnten so durch die Distrikte überwacht werden“ Nach zwei Jahren musste diese politische Vogel-Strauß-Taktik aufgegeben werden Inzwischen sind alle Jusogruppen in Eimsbüttel und fast alle in Hamburg mit Gefolgsleuten des mächtigen Mitte-Mannes besetzt. Die rechte Revolution bei der Jusos erfasst inzwischen die ganze (Hamburger) Partei. Bereits im Frühjahr 2008 konnte nur mit Not die Übernahme der für die Macht im Kreis entscheidenden Schlüsseldistrikte Eimsbüttel Nord und Süd sowie Schneisen verhindert werden.
    Eine tektonische Machtverschiebung in der Hamburger SPD zu Gunsten von Johannes Kahrs scheint nur eine Frage der- Zeit. „Bereits jetzt sind einzelne Distrikte in Wandsbek und Nord in der Hand von Kahrs-Jüngern, ebenso weite Teile des SPD-Landesverbandes“ erläutert das Kreis-Vorstandsmitglied. Dass sich der bisher eher farblos agierende SPD-Landeschef Ingo glatt für Ilkhanipour und gegen die mögliche Wahl eines dritten Kandidaten ausgesprochen habe, sei für viele nur ein weiteres Zeichen dafür, unter welch immensem Druck der Landeschef aus dem Kreis Wandsbek bereits jetzt stehe.
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    Junge Mitglieder werden zur Loyalität erzogen
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    Das erfolgreiche Anwerbender Jusos folgt dabei immer dem gleichen Muster. Junge Mitglieder werden mit „kostemlosen Saufen, gemeinsamen Busfahrten nach Berlin und der Aussicht auf eine Praktikantenstelle, ein Mandat oder einen Job im Karrierenetzwerk von Kahrs zur Loyalität erzogen. Das System Kahrs ist auf Wachstum ausgelegt Die Währung für den eigenen Aufstieg ist das eigene Anwerben weiterer Mitglieder – ähnlich einem klassischen Schneeballsystem, das expandieren muss, um sich am Leben zu erhalten. Dieser Grundkonflikt der Hamburger Sozialdemokratie ist also weniger inhaltlicher Art sondern vielmehr an Mandaten und Macht festzumachen. „Langfristige Kompromisse innerhalb der SPD werden dadurch zwangsläufig unmöglich“, heißt es nicht nur aus Eimsbüttel „Spitzenfunktionäre von Kahrs arbeiten nur solange vernünftig mit, bis sie heimlich eine Mehrheit akkumuliert haben und alle anderen aus den Ämtern drängen. Das hat schon beinahe etwas von politischen Schläfern, die auf ihre Aktivierung warten.
    Als Ressource für diese aufwendige Form der eher orientalisch anmutenden Form des Neopatrimonalismus in der Hamburger SPD dienen dem leidenschaftlichen Reserveoffizier seine lukrativen Kontakte in die Rüstungswirtschaft. Die Hamburger Morgenpost berichtete, dass Firmen wie „Krauss-Maffei Wegmann“ und „Rheinmetall“ 2004 und 2005 rund 100.000 Euro für die Wahlkämpfe der Machtmaschine Kahrs zur Verfügung stell(t)en.
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    Wie rund 1000 Briefwahlzettel aus einer Urne in der Parteizentrale verschwinden?
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    Pikant: Beide Firmen entwickeln den Schützenpanzer Puma, für den die Projektsumme von zunächst zwei auf derzeit drei Milliarden Euro erhöht wurde. Kahrs ist seit dieser Legislaturperiode mit allen Parlamentsangelegenheiten für das Projekt federführende befasst. Als sich der damalige Landesvorsitzende Mathias Petersen für eine schärfere Überwachung der Rüstungsspenden aussprach und mit weiteren politischen Vorstößen wie einer einsehbaren Datei für Sexualstraftäter politisch ins Aus schoss, wurde er auf Betreiben seiner innerparteilichen Gegner entmachtet. Eine der Schlüsselfiguren: Johannes Kahrs, der mit durchsetzte, dass sich Petersen einer Mitgliederbefragung stellen musste.
    Die Ouvertüre zu einem Skandal, der bundesweite Wellen schlug: Bei der Wahl kam es zum Stimmenklau. Rund 1000 Briefwahlzettel verschwanden aus einer Urne in der Parteizentrale. Obwohl der damalige Landesvorsitzende Mathias Petersen auch ohne die fehlenden Stimmen die Mitgliederbefragung haushoch gewonnen hätte, wurde er nicht Spitzenkandidat. Der Diebstahl ist bis heute nicht geklärt.

    © SZENE HAMBURG | FEBRUAR 2009