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Langweilt euch wieder! Was passiert, wenn man einfach mal nichts tut

Etwa 40 Minuten fahre ich mit der Bahn jeden Tag zur Arbeit. Es ist eine durchaus romantische Strecke. Wiesen, Felder und Hügel. Ein paar Dörfchen und Kleinstädte bekommen durch die U-Bahn-Linie 18 ein wenig Großstadtgefühl dank der Lage zwischen Bonn und Köln. Aber fährt man die Strecke täglich, wird es im wahrsten Sinne des Wortes irgendwann langweilig. Normalerweise lese ich dann schon Mails, Newsletter und RSS-Meldungen, höre Musik auf dem Smartphone oder lese mal ein Buch, wenn mir nicht nach arbeiten ist. Heute Morgen tat ich nichts.

Es war einfach ein bisschen zu viel in letzter Zeit, ein unglaublich turbulenter September seit der IFA. Man könnte praktisch tags und nachts bloggen und tut das manchmal auch. Ich verreise wieder mehr auf Termine, es kommen gehäuft Interview-Anfragen von Radiosendern und heute schaut sogar das Fernsehen bei uns in der Redaktion vorbei. Das Sommerloch? Vorbei, und zwar längst. Der Arzt rät ja dazu, hin und wieder Sport zu treiben, um bei all dem Trubel gesund zu bleiben. Aber als ich das gestern Abend tat, verpasste ich damit Apples offizielle Einladung zum iPhone-Event, Microsofts Mango-Update und den Start des Firefox 7. Auch wieder nicht gut. Heute Morgen in der Bahn war es dann so weit: Ich hatte einfach keine Lust mehr etwas zu tun, musste dieser Maschinerie einfach mal entkommen. Ich wollte mich endlich wieder langweilen.

Langeweile ist Luxus


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Und Langweilen, das wissen wir, ist zum Luxus verkommen. Die Langeweile dank Social Media und Mobile Web mittlerweile abgeschafft, schrieb Martin Weigert schon vor zwei Jahren. Wie weit muss es kommen, dass man sie sich zurück wünscht?

Also ließ ich heute Morgen mein iPhone aus, schnappte mir kein Buch zum Lesen, stellte keine Musik an. Ich lehnte einfach nur an der Scheibe der U-Bahn und tat nichts. Was passiert eigentlich, wenn der Mensch einmal nichts tut? Wenn er mal zum Nachdenken kommt? Selbst wenn man die Zeit dafür hat, denkt man selten darüber nach, was eigentlich genau dabei passiert. Ich hab das einmal dokumentiert.

So laut, dass ich das Lied erkannte

In den ersten Minuten des Nichtstuns hielt ich mein iPhone noch umklammert. Ich könnte doch mal gucken, ob… und sollte ich nicht vielleicht mal… Ich zwang mich, es ausgeschaltet zu lassen. Nach zwei Haltestellen erinnerte mich meine innere Uhr an diverse Verpflichtungen, die ich noch zu erledigen hätte: die Steuererklärung für 2010 noch einmal verlängern – ich hoffe, das geht noch. Wäsche waschen. Einige Haltestellen lang schaute ich aus dem Fenster, aber nach drei weiteren Haltestellen überkam mich plötzlich die Idee, ich könnte mir die Mitfahrer einmal genau anschauen. Ein Mann mit Fünf-Tage-Bart und Strickjacke, der vor mir saß, las die „Bild“ und darin einen Artikel, dass Schalke dem neuen Trainer Huub Stevens 2 Millionen Euro im Jahr zahlt und dass er jetzt „zu Hause“ sei. Markige Worte.

Ein Mädchen neben mir hörte Musik über Kopfhörer, so laut, dass ich hören konnte, welches Lied es war. („Fat Lip“ von Sum 41). Nach einer Viertelstunde entschied mein Kopf, ich könne jetzt mal über prägnante Szenen aus meiner Lieblingsserie „Breaking Bad“ nachdenken. Und ich musste ausgerechnet an die Szene denken, in der die beiden Hauptdarsteller – alle unter 12 bitte weghören – die Leiche eines Drogendealers in Säure auflösen, dafür aber die falsche Badewanne verwenden. Die Absurdität brachte mich zum Lachen. Als nächstes wollte mein Gehirn, dass ich über einige Artikel nachdenke, die ich in den letzten Tagen geschrieben hatte und darüber, was ich daran hätte besser machen können.

Schon lange nicht mehr so gelacht

Nach etwa 25 Minuten Fahrt setzte sich ein Mann neben mich, der lauthals mit einer Frau telefonierte. Er schien in einem Orchester zu arbeiten: „Das musst du dir mal vorstellen. Der Cellist hat gesagt, wir bräuchten ihm nicht zu zeigen, dass wir seine Musik nicht schätzten. Das würde er auch so erkennen.“ Dass der Mann in etwa die gleiche Stimme hatte wie Helge Schneider, machte die Sache nicht weniger amüsant. Er klagte seiner Gesprächspartnerin: „Ich fühle mich manchmal wie in ‚Einer flog über das Kuckucksnest‘. Kennst du den Film? Jack Nicholson ist da im Irrenhaus und baut den ganzen Tag Scheiß, um die Leute bei Laune zu halten – bis sie ihn mit Elektroschocks kaltstellen.“

Ich musste lachen und wusste selber nicht, warum eigentlich. Und da fiel mir auf, dass ich schon lange nicht mehr laut gelacht hatte. Und ich verschrieb mir augenblicklich mehr solcher Pausen zu machen, gerne auch deutlich längere. Am Ende der Fahrt war ich wacher und entspannter als sonst. Mal nichts zu tun, muss nicht zwingend in Langeweile ausarten. Als ich im Büro aufschlug, erwarteten mich 600 ungelesene Feed-Nachrichten und 75 unbearbeitete Mails. Aber gut, um die wäre ich so oder so nicht herum gekommen.

(Jürgen Vielmeier, Bild: Chairman Meow unter CC-Lizenz BY-SA 2.0)

Über den Autor

Jürgen Vielmeier

Jürgen Vielmeier ist Journalist und Blogger seit 2001. Er lebt in Bonn, liebt das Rheinland und hat von 2010 bis 2012 über 1.500 Artikel auf BASIC thinking geschrieben.

26 Kommentare

  • Schöner Artikel, aber kommts dir dann nicht so vor, als hättest du wervolle Zeit verschwendet?

    Grüße

  • „Aber als ich das gestern Abend tat, verpasste ich damit Apples offizielle Einladung zum iPhone-Event, Microsofts Mango-Update und den Start des Firefox 7. “

    oh meine güte, dass sind aber wirklich weltbewegende dinge gewesen. wer die verpasst hat hängt sich besser gleich am nächsten baum auf. am besten ein apfelbaum. muahahahaah…. ich behaupte mal einfach so dass firefox 7 sicher nicht das rad neu erfinden wird, ebensowenig firefox 8 und firefox 9,10, 11 und 12.. ebenso das mango update und das iphone event… etc

  • Ich pendle auch seit 4 Jahren, 1h 15 Minuten. Und seit einem halben Jahr rum habe ich das iPad nicht mehr dabei, das frustriert mich eh nur, wenn das öffnen der Seiten zu lange dauert oder die Videos nicht abgespielt werden können.
    Ne weile habe ich dann wieder Bücher gelesen, Musik gehört, aber in letzter Zeit mache ich auch oft einfach mal gar nichts, was sehr erholsam ist.

  • Jetzt hab ich direkt Lust auf ‚Nichtstun‘, danke für den Artikel! Normalerweise läuft das ja ähnlich wie bei dir. Aber vielleicht sollte ich mich morgen in der Bahn auch mal von nichts unterhalten lassen, sondern einfach mal entspannen, nichtstun eben.

  • Neben Musik hören zählt das Angucken der Leute doch zum größten Spaß in der Bahn. Die KVB (ich vermute auch bei dir) hat da doch Einiges zu bieten wenn man mal genauer hinschaut.

    Ab und zu ein Buch, aber erst reicht einfach mal aus dem Fenster zu gucken und sich zu langweilen. Kann ich besonders nach dem Arbeitstag sehr empfehlen.

  • Nichtstun und Langweilen sind aber zwei ganz verschiedene Dinge! Man kann schwer beschäftigt sein und sich dabei fürchterlich langweilen 😉

    Und Nichtstun muss keineswegs fad sein. Sich planlos treiben lassen, sich nicht von den Dingen hetzen lassen, die erledigt werden wollen, mal in den Tag hineinleben, das müsste man sich viel öfter erlauben. Also, danke für die Erinnerung, ich glaub, ich geh jetzt in den dolce-far-niente-Feierabend 🙂

  • Ein hervorragender Artikel der noch einmal klarstellt, dass im Meer der Aufgaben, das die technischen Fortschritte dem Menschen gebracht haben, sich treiben zu lassen manchmal sehr wichtig sein kann. Überhaupt braucht man manchmal Ruhe und Leere um kreativ zu sein und nach Pause wieder mit Elan arbeiten zu können.

  • @4

    Ja ich kenne das, einfach man nichts machen ist schon richtig gut. Fern von iwas, einfach nur dar sitzen bzw liegen und in die Gegen gucken.

  • Als Schüler habe ich mich oft gelangweilt und es auch genossen. Mittlerweile möchte ich fast jede freie Minute mit irgendwas sinnvollem Stopfen, damit ich produktiv die Zeit nutze. Sei es arbeiten, bloggen oder irgendwas anderes.

    Aber langweilen geht bei mir gar nicht..

  • aber warum mit der 18 von Köln nach Bonn? die DB ist doch viel schneller? RE5/RB48/MRB???

    Selten trifft man in der Bahn, wie aus der Werbung sogar jemand mit dem man einfach mal 45 Minuten quatscht, leider sehr selten. Komischerweise fühlen sich Leute einander zugehöriger wenn man z.B. die gleichen Interessen hat, wie wenn mal wieder die Bahn zu spät ist und es dann keine Sitzplätze gibt weil es nur „eine halbe Bahn“ ist. Dann reden alle darüber und regen sich gemeinsam auf. Ist alles in Ordnung, sind die Menschen still und niemand sagt was… find ich seltsam, klassiker sind die, die einsteigen, telefonieren, ihr leben am Telefon erzählen und wenn sie nach 30 Min aussteigen, immer noch telefonieren.

    +1 für deinen Beitrag.

  • @Maffay: Danke. 😉 Ich fahre nicht ganz bis Köln, sondern nur bis Hürth. Geht mit der 18 tatsächlich schneller.

  • Hallo Jürgen,

    für das Lachen, gibts denn dafür keine App? 😉 Mensch, mach das öfter so, sonst ist es irgendwann soweit… Ist es denn nicht verrückt, wie rasend schnell alles geworden ist? Lass Dich nicht zum Sklaven der Technik machen, dafür schreibst Du viel zu gut! *Daumen hoch*

  • ahjaa, stimmt, intergenia chillt ja in Hürth… dachte mir schon „BasicThinking bloggt aus Bonn? sollte die Jungs mal besuchen ;)“

    Ich habe hier mal einen Vorschlag:

    -> Ihr könnt über viele Sachen berichten weil ihr die „Connections“, das Fachwissen, die Möglichkeiten etc. habt. Dabei wollt ihr auf die „Bedürfnisse“ bzw. auf die Interessen der Leser eingehen. Wie wäre es, wenn ihr euch von uns, den Lesern, Vorschläge für neue Themen senden lasst. Ihr veröffentlicht dann (ihr wählt eine handvoll aus) ein paar dieser Vorschläge. Die Leser stimmen ab, ihr schreibt einen Artikel darüber. (vielleicht sogar alle 4 Wochen einen?) Sowas fänd ich interessant, cool …. und ….das gibt es noch nicht?

    Das wären dann quasi nicht die News alá „wann kommt das neue iphone“ bzw. 0day Trash, sondern eher Artikel im „Basic Flashback“ style?

    Was haltet ihr von der Idee? (vielleicht nicht der beste Ort sie zu platzieren, aber egal.. und auch wenn’s nichts wird: ich les trotzdem BT ;))

    /edit: das wäre dann ein „voted Post“ oder „wanted Post“ (anlehnung an sponsored post)

  • @Peter Maffay: Joa, warum eigentlich nicht… Gute Idee! Aber nicht, dass es dann heißt, wir hätten keine Ideen mehr. 😉 Irgendwie dreht man sich bei seinen Themen oft im Kreis, wenn man nicht mehr richtig zum Abschalten kommt.

    @Jens: Merci. 😉 Und keine Sorge. Ich war schon einmal in so einer Situation und weiß von damals, wann es höchste Zeit ist abzuschalten. Und das tue ich jetzt immer öfter, u.a. von heute 17 Uhr bis mindestens Montag früh (langes WE).

  • ich hab mich hier noch nicht beschwert….

    und wenn man das nur einmal im Monat macht, liegen dazwischen noch genug weitere Beiträge.

  • Das ist ja witzig, oder auch nicht, wie manns nimmt. Immer mehr Menschen – aus meinem Bekanntenkreis aber auch VIPs aus den Medien – sind am Ende ihrer mentalen Kräfte, Burnout, Flasche leer.
    Mein letzter Cartoon-Beitrag handelt nämlich davon, und das bei dem super Wetter momentan. Unverständlich?

    Und dabei haben die Betroffenen es gar nicht mal so schlecht, weder finanziell noch Belastungsmässig, und trotzdem sind sie leer. Andere powern ohne Ende und sind dabei wunderbar drauf.

    Langeweile als etwas schlechtes, habe ich glaube ich mein Lebtag noch nicht verspürt. Langeweile – als unverplantes Zeitkontinent für freie Gedanken – ist für mich mega-wertvoll und ein Kreativitätsbooster ohne gleichen. (Und wenn es nur die Zeit auf dem Pott oder unter der Dusche ist, alles besser als nichts :).)

    Aber so ist das wohl mit Langeweile und Leere, sie hat mit Objetivität wenig zu tun.