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#duranadam: In Istanbul verharrt ein Mann stundenlang im stillen Protest – und wandert viral um die Welt.

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Um es vorsichtig zu formulieren: In der Türkei läuft derzeit politisch und menschlich nicht alles rund. Die geplante Abholzung der letzten zentralen Grünfläche in der Millionenstadt Istanbul hatte massive Demonstrationen und Proteste zur Folge, die durch Polizeigewalt und verbale Aggressivität von Staatschef Erdoğan nicht unerheblich hochkochten. In der Nacht von Montag auf Dienstag entschloss sich ein kreativer Istanbuler nun dazu, seinem Protest durch Passivität Ausdruck zu verleihen. Er blieb stehen. Schaute auf die riesige Fahne von Staatsgründer Atatürk am Taksim-Platz. Und sorgte damit für einen riesigen medialen Aufruhr, der es bis auf die Startseiten der großen deutschen Hauptmedien schaffte. #duranadam, der stehende Mann – ein Twitter-Phänomen.

Neue Form des Protests – still. Zurückhaltend.

Istanbul ist für mich etwas Besonderes. Ich kenne neben meiner Heimatstadt in Deutschland kein Fleckchen Erde besser, als die Perle am Bosporus. Grund dafür ist ein intensiv erlebtes Auslandssemester im vergangenen Jahr, das mir Istanbul und seine jungen, weltoffenen Bewohner eng ans Herz wachsen ließ. Kein Wunder, dass mir die Proteste womöglich ein wenig näher gehen, als dem Durchschnitts-Deutschen. Am gestrigen Montag, einen Tag nachdem der Gezi-Park seitens der Staatsmacht von den friedlichen Besetzern geräumt wurde, versuchte sich ein Mann namens Erdem Gündüz in einer ganz neuen Form des Protestes und bewegte damit die Massen. Er verharrte.

Dabei wählte er eine Stelle auf dem zentralen und geschichtlich aufgeladenen Taksim-Platz mit direktem Blick auf das Atatürk-Kulturzentrum, das derzeit mit zwei großen Türkei-Fahnen und einem Bild Mustafa Kemal Atatürks geschmückt ist (siehe Artikelbild oben). Daran prekär: Mustafa Kemal, der „Vater der Türken“, einst großer Militär-Funktionär, gründete die moderne Türkei nach dem Ersten Weltkrieg als Präsident nach westlichem Vorbild als strikt vom Glauben getrennten, säkularisierten Staat. Seine Idee von einer dem Westen zugewandten Türkei wurde politisch auch in den Jahrzehnten nach seinem Tod 1938 weitergeführt.


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Kritiker werfen der demokratisch gewählten, stark konservativen Regierungspartei AKP unter der Führung von Recep Tayyip Erdoğan vor, den Glauben wieder tiefer in die Türkei implementieren zu wollen und sich damit von den Grundfesten des kemalistischen Laizismus zu entfernen. Kuss-Verbot in U-Bahnen, Alkoholverbot ab 22 Uhr: für moderne, junge Türken ein Einschnitt in ihre Grundfreiheiten. Für deren Erhalt sie nun im Zuge der Proteste einstehen.

Zeuge der viralen Verbreitung

So auch #duranadam, der stehende Mann. Mit seinem stillen Blick auf das Atatürk-Antlitz verlieh er seiner Wut Ausdruck. Still. Regungslos. Es dauerte nicht lange, bis sich einige Menschen dazu gesellten und ihm eine Bühne schufen. Schnell fanden erste Medienvertreter ihren Weg zu #duranadam – ein Fernsehteam von HalkTV, einem der wenigen türkischen Sender, die die Proteste mit Live-Berichterstattung begleiteten, filmte und kommentierte den Rastenden live. Kurz darauf verbreitete sich die Nachricht in den sozialen Medien wie ein Lauffeuer.

Dabei wurde ich Zeuge, welche Macht von den neuen Medien ausgehen kann. Ich selbst folge dem bei Twitter sehr aktiven ZEIT-Politredakteur Lenz Jakobsen, der zur Berichterstattung zum zweiten Mal nach Istanbul gereist ist und kurz nach 23 Uhr deutscher Zeit noch auf der großen Einkaufsstraße Istiklal Caddesi unterwegs war.

Zu diesem Zeitpunkt verbreitete sich das Hashtag #duranadam / #standingman schon viral und wurde mir als Trend angeboten, weshalb ich überhaupt darauf stieß. Ich wollte Lenz auf #duranadam Aufmerksam machen, da er nur ein paar Gehminuten entfernt zu Gange war. Andere Twitter-Nutzer kamen mir aber zuvor, wie ich sah. Es dauerte keine zehn Minuten, bis Jakobsen vom Taksim-Platz das erste Bild zwitscherte. Sehr viel näher am Geschehen kann man nicht sein – Live-Videostreaming ausgeklammert.

Immer mehr Menschen fanden sich am Taksim-Platz ein. Einer stellte sich neben #duranadam.

Später bildete sich eine Menschenkette um den stehenden Protestler. Dann wurde die Lage unübersichtlich. BILD-Reporter Claas Weinmann berichtet, die Lage sei von der Polizei aufgelöst worden, indem alle Stehenden in einen Bus gezerrt und verhaftet worden seien.

Er steht da. Und wandert hinaus in die Welt.

Kurz davor machte sich das Hashtag #duranadamyalnızdursun im Twitter-Kosmos breit, dessen deutsche Übersetzung alle Umstehenden dazu aufforderte, #duranadam alleine in seinem stillen Protest zu lassen, um keine Polizei-Intervention zu provozieren. Zu spät.

Der stehende Mann steht heute nicht mehr am Taksim-Platz. Dafür hat sein Protest durch die Macht der sozialen Netzwerke sogar in Deutschland Nachahmer und – das überraschte mich heute morgen sehr – den Weg auf die Startseiten der größten deutschen Medien gefunden:

Aufmacher bei SPIEGEL ONLINE. Durch einfaches Ausharren bis in die Massenmedien geschafft.

Aufmacher bei SPIEGEL ONLINE. Durch einfaches Ausharren bis in die Massenmedien geschafft.

Ob BILD („Wer ist der stille Demonstrant vom Taksim-Platz?“), Spiegel Online („Schweigen für den Widerstand“), Stern („Der stehende Mann wird zur Protest-Ikone“) oder Süddeutsche Zeitung („Der stehende Mann vom Taksim-Platz“), Frankfurter Rundschau oder WELT Online („Still stehen, schweigen – und sich verhaften lassen“) #standingman ist allgegenwärtig. Lediglich FAZ und ZEIT (Lenz? Hallo?) haben bisher nichts zum stehenden Mann Erdem Gündüz veröffentlicht.

Faszinierendes Gezwitscher

Faszinierend, welche Macht vom Social Web mittlerweile ausgeht. Ich selbst habe Twitter lange unterschätzt und es erst in diesem Jahr als Informations-Aggregator und Trend-Fundgrube für mich entdeckt. Trends so nah miterleben zu können ist hochspannend, so lange man die Gefahren des ungefilterten Informationsflusses nicht gänzlich ausblendet.

In Istanbul hat sich die Lage derweil beruhigt. So scheint es. Dass es im Inneren vieler Istanbuler immer noch kocht, das zeigt die Reaktionsfreude, die durch die eigensinnige Protestform von #duranadam frisch entfacht wurde. So stehen auch heute wieder Menschen still schweigend auf dem Taksim-Platz. Zwar ohne Erdem Gündüz, aber aus ähnlichen BewegStillstehensgründen:

Wem die Vorgänge in Istanbul ähnliche Sorge bereiten, wie mir, dem lege ich folgende Twitter-Profile ans Herz:

  • Ivan Watson (@IvanCNN), Nahost-Korrespondent von CNN International, derzeit außer Landes, sollte ab Ende der Woche wieder regelmäßig twittern
  • Benjamin Harvey (@BenjaminHarvey), Leiter des Istanbuler Büros von Bloomberg
  • Monique Jaques (@moniquejaques), Fotojournalistin
  • Lenz Jakobsen (@jalenz), Freier Journalist und ZEIT-Politikredakteur, im Zuge der Proteste nach Istanbul gereist
  • Claas Weinmann (@Claas_Weinmann), BILD-Politikredakteur, im Zuge der Proteste nach Istanbul gereist
  • Özlem Topcu (@OezlemTopcu), Freie Journalistin, derzeit ebenfalls vor Ort

Bei den Protest-Vorgängen ist das Hashtag #occupygezi vorherrschend.

Bilder: EvrenKalinbacak / Shutterstock.com; Screenshot

Über den Autor

Michael Müller

Michael tritt seit 2012 in über 140 Beiträgen den Beweis an, trotz seines Allerweltnamens real existent zu sein. Nach Abschluss seines Wirtschaftsstudiums arbeitete er einige Jahre als PR-Berater, bevor er 2016 als Tech-Kommunikator bei einem deutschen Spezialglas-Hersteller einstieg.

12 Kommentare

  • Es ist gut, dass die Protestler einen besinnlichen Weg einschlagen. Der Protest war eigentlich schon von Anfang an friedlich, jedoch kam dann die Gewalt der Polizisten hinzu.

    Das jetzt still protestiert wird, steht im Gegensatz zu der Art des Premiers Erdogan, der sich immer laut und befehlend gibt.

    Ich hoffe, dass die Bewegung sich nicht unterkriegen lässt und der Protest den Regierenden ihre Grenzen aufzeigen kann.

  • #duranadam, erst mal danke das ihr dieses thema hier erwaehnt.
    Leider ist die „stress situation“ in der türkei seit über 20 tagen am laufen.
    Wie ihr in eurem Bericht schon erwaeht habt es hat angefangen mit der letzen grünen Flaeche in Istanbul. Aber das eigentliche Thema ist das die Menschen in der Türkei eine freie Demokratie sowie auch in Europa haben wollen.
    Die in letzer Zeit von den Polizisten attakierten Aktivisten mussten sich was neues überlegen und das war #duranadam also das passive Demonstrieren.

    Nochmal danke.

    #duranadam
    #direnankara
    #direngezi
    #direnistanbul
    #direnankara

  • Danke für den guten Beitrag.

    Zwei Verbesserungen:
    „gründete die moderne Türkei nach dem Zweiten Weltkrieg“ – nach dem Ersten Weltkrieg (eigentlich nach dem Unabhängigkeitskrieg 1929).

    Alkohlverbot – nur der Verkauf von Alkohol ab 22 Uhr in Läden ist verboten (nicht das Trinken). In Nachtclubs darf weiterhin verkauft werden. Diese Regelung nach 22 Uhr kein Alkohol mehr gibt es auch in anderen europäischen Ländern. Aber es stimmt, dass der Verkauf massiv eingeschränkt wurden. Werbung für Alkohol wurde ganz verboten.

  • „Mustafa Kemal…gründete die moderne Türkei nach dem Zweiten Weltkrieg…“

    Bitte ändern. Die Türkischen Republik wurde nach dem Ersten Weltkrieg gegründet.

  • Mir ist noch nicht ganz klar wogegen man dort Widerstand leistet. Ich lese immer nur was die Polizei macht, was die Demonstranten machen. Bsp. #duranadam. Gut da steht nun jemand, manche länger, manche weniger, manche in Istanbul und manche sonst wo. Aber daraus wird noch nicht ersichtlich weshalb sie das tun.

    Wäre es nicht viel wichtiger diesen Punkt besser aufzuzeigen? Einfach nur zu sagen: Mein individueller „Lebensstil“ reicht nicht weil jeder einen anderen Lebensstil hat.

    Oder wie oben: „Aber das eigentliche Thema ist das die Menschen in der Türkei eine freie Demokratie sowie auch in Europa haben wollen.“

    Was soll/kann man darunter verstehen? Ist Europa eine gesetzesfreie Zone? Wissen die Widerständler nicht, dass es in Deutschland Gesetze gibt die in der Türkei sogar undenkbar wären?

    Bsp: GEZ, Rauchverbot

    Jetzt stelle man sich doch mal vor was passieren würde wenn in der Türkei das Rauchverbot eingeführt würde. Türken rauchen sogar mehr als Deutsche. Wäre dies nicht auch ein Eingriff in den individuellen „Lebensstil“? Und wenn dies ein Eingriff wäre, weshalb sind dann die deutschen Raucher nicht täglich auf den Straßen?
    Über die GEZ schimpft auch jeder aber weshalb ist niemand auf der Straße?
    Weshalb hier kein #duranadam?

    Von Alewiten lese ich etwas von schleichender Islamisierung. Ist diese Behauptung Wirklichkeit? Muss man ein offiziell zu 98% islamisches Land islamisieren? Wäre dies nicht vergleichbar mit der Christianisierung des Vatikans?

    Bedeutet gelebte Demokratie, dass man wegen allem und jedem auf die Straßen gehen muss? Selbst Gewerkschaften sollen wohl demonstrieren, gesetzeswidrig…

    Mich würde interessieren ob dieser Protest mehr aus einer empfundenen Einschränkung resultiert oder gibt es handfeste Beweise einer Einschränkung durch Erdogan? Wenn es diese gibt weshalb kann man sie nirgends finden?

    Kurz, sind bisher wirklich genügend gute Gründe genannt worden um täglich das öffentliche Leben lahm zu legen und sein Land in ein wirtschaftliches Caos zu versetzen? Ist die Freiheit in der Türkei durch Erdogan wirklich so sehr eingeschränkt worden?
    Mein Verständnis von Demokratie ist, dass es auch hier Regeln/Gesetze geben muss und auch welche gibt. Gerade wir Deutsche sollten doch am bestens wissen, wie viele unsinnige Gesetze/Vorschriften es hier gibt und die Meisten dieser Gesetze gibt es in der Türkei nicht aber demonstriert wird dennoch in der Türkei und nicht hier.

    Würde mich über eine kleine Erleuchtung freuen.

  • chris, in der Türkei herrscht auch Rauchverbot:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Rauchverbote_nach_Land#T.C3.BCrkei

    Hier bei BASIC thinking ging es mir primär um die virale Verbreitung von #duranadam im Social Web – wir sind ein Technikblog. Trotzdem war es mir zum Verständnis wichtig, einen kurzen Abriss darüber zu geben, was in der Türkei derzeit vor sich geht und was Menschen wie Gündüz zum Protest bewegt.

    Wenn du mehr über die Vorgänge und die Hintergründe für die landesweiten Proteste in der Türkei erfahren willst, empfehle ich dir folgende Artikel:

    http://www.tagesschau.de/ausland/interview-tolun100.html
    http://www.tagesschau.de/tuerkei674.html
    http://www.tagesspiegel.de/politik/tuerkei-proteste-rund-um-den-gezi-park-das-problem-ist-tayyip/8298794.html
    http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-erdogan-provoziert-gezi-demonstranten-mit-rede-in-istanbul-a-906049.html

    Ich hoffe das sorgt für die „kleine Erleuchtung“ 😉

  • Das Rauchverbot gibt es und sie wurde auch von der AKP eingeführt und konsequent umgesetzt.

    So was wie die GEZ gibt es zwar nicht, aber die staatlichen TRT Sender werden zu 70% von Steuergelder finanziert.

    Ich würde mir allerdings sehr wünschen, wenn die TRT in der Türkei so unabhängig wäre die öffentlich-rechtlichen in Deutschland. TRT in der Türkeit ist so was wie das Sprachrohr der AKP-Regierung. Kritik an der AKP gibt es nicht.

    Außerdem gibt es in der Türkei auch noch eine Institution, die sich RTÜK nennt. Sie macht nichts anderes, als allen Sender vorzuschreiben, was man senden darf und was nicht. Sender die positiv über die Proteste berichtet haben wurden von der RTÜK mit sehr empfindlichen Geldstrafen bestraft. So wurde der sender Halk TV mit einer Geldstrafe von 146.000 TL (~58.000€) bestraft, weil in einer Film sehen konnte wie jemand eine Zigarette raucht.

    Die AKP hat es mittlerweile durchgesetzt, dass Zigaretten und Alokohl im Fernsehen nicht gezeigt werden dürfen.

  • Hallo und vielen Dank für die ganzen Infos!

    Das mit dem Rauchverbot wußte ich nicht finde es aber gut.
    Man liest immer wieder das mehr Menschen daran sterben als bei Verkehrsunfällen. Was Erdogan betrifft sollte man mit ihm nicht so hart ins Gericht gehen. Man sollte sich erinnern wie es vor Erdogan war. Damals wären solche Demonstrationen gänzlich undenkbar gewesen.

    Die wirtschaftlichen Schäden die durch die Prosteste entstanden sind oder noch entstehen sollten auch nicht unbeachtet bleiben. Die Türkei ist noch weit davon entfernt ein wohlhabendes Land zu sein und meistens trifft es die Armen zuerst wenn es wirtschaftlich bergaggeht.

    So, nun aber 🙂 Ich bedanke ich mich nochmals und wünsche einen schönen Tag.

  • Stiller Protest, gewaltloser oder passiver Wiederstand, gewaltfreie Aktionen, oder Boykottaktionen – noch immer die effektivste Form gesellschaftlich nachhaltige Veränderungen zu bewirken! Weiter so.

    Btw: guten Blog hast du da 🙂