Social Media Wirtschaft

So startet man mit 102 Jahren noch ein erfolgreiches Crowdfunding-Projekt

geschrieben von Jürgen Kroder

Crowdfunding ist nur etwas für junge Menschen? Von wegen! Letztes Jahr sorgte die damals 102-jährige Ella Balkow für Aufsehen: Zusammen mit ihrer Enkelin setzte sie das Projekt „Der Kalender der Hundertjährigen“ um, für das die Rentnerin erfolgreich über Startnext.de Geld einsammelte. Vom Erfolg angetrieben, brütet die wohl älteste Crowdfunderin Deutschlands bereits neue Ideen aus. Wir haben nachgefragt.  // von Jürgen Kroder

Ella Balkow, liebevoll auch „Mutsch“ genannt, besitzt keinen Computer. Das scheint der Seniorin, die mittlerweile stolze 103 Lenze zählt, aber nicht zu gefallen: „Hätte ich gewusst, dass ich noch so lange lebe, hätte ich mir einen Computer angeschafft. Heute ist doch alles in diesem Internet.“

Ein Hindernis ist das aber nicht. Ihre 46-jährige Enkelin Natalie Balkow regelt eben das Geschäftliche für sie. Mit ihr haben wir uns über das Thema Crowdfunding, Pressearbeit, ein langes Leben und über die neuen Konzepte ihrer fidelen Großmutter unterhalten.


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Ungewöhnliche Zielgruppe

Eine 102-Jährige, die eine Crowdfunding-Aktion startet – das klingt nach einem Scherz. War aber keiner. Wie reagierten die Menschen, als sie von dem Projekt hörten?

Die Reaktionen waren durchweg positiv. Und es war ja klar, dass ich als „Mittlerin“ zwischen meiner Großmutter und dem Netz fungiere – es war ein Mehrgenerationenprojekt und so haben wir das auch kommuniziert. Meine Großmutter ist eine sehr praktische Frau, die immer mit der Zeit geht. Heute passieren Dinge im Internet? Dann geht man eben da hin.

Für ihr Projekt „Kalender einer Hundertjährigen“ wollte sie bei Startnext 2.000 Euro einsammeln, am Ende waren es über 4.700 Euro – hätten Sie damit gerechnet?

Absolut nicht. Wir sind gestartet mit dem Gedanken: Wir versuchen es – wenn es nicht klappt, ist es auch okay. Es war ja eine etwas gewagte Konstruktion: Unsere Zielgruppe waren hochbetagte Menschen, die leider immer noch zu oft vom Internet und seinen Möglichkeiten abgeschnitten sind. Aber so wie meine Großmutter mich als „Assistentin“ hatte, so hofften wir, dass auch die Internet-affinen Enkel an ihre Großeltern denken, wenn sie auf das Projekt aufmerksam wurden. Und das hat funktioniert.

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Was wurde aus dem überschüssigen Geld? Haben Sie und Ihre Großmutter sich davon etwas Besonderes gegönnt?

Oh nein, da kennen Sie aber meine Großmutter nicht!

Zunächst: Es ist nicht wirklich viel übrig geblieben. Als klar war, wie viel wir einsammeln würden, haben wir die Auflage erhöht. Das zog neue Kosten nach sich, auch für Versandkartons und so weiter. Außerdem haben wir statt auf eigene Naturfotos zurückzugreifen, bei einer professionellen Bildagentur Lizenzen gekauft – zu einem günstigen Preis, aber gekostet hat es natürlich.

Und dann hatten wir leider einen Fehler bei der Berechnung der Portokosten gemacht – die Kalender waren drei Zentimeter zu breit, um noch als Päckchen verschickt werden zu können. Das herauszufinden war kein schöner Moment. Meine Großmutter hat vom relativ bescheidenen Rest einen Teil gespendet und einen Teil stecken wir in unser nächstes Projekt.

Zu ihrem nächsten Projekt kommen wir gleich noch. Lassen Sie uns zuerst noch einmal über das Crowdfunding reden. Was waren aus ihrer Sicht die Faktoren, die solch einen Erfolg möglich gemacht haben?

Die gute Geschichte: Hundertjährige macht Crowdfunding. Das ist etwas Besonderes.

Gut war außerdem, dass die Geschichte zu 100 Prozent wahr ist. Auch, dass wir als Familie so etwas gemeinsam auf die Beine stellen: Mein Vater, also ihr Sohn, hat auch mitgeholfen, sowie mein Sohn, also ihr Urenkel.

Hinzu kommt, dass unser „Produkt“, der Kalender, wirklich originell und schön ist. Die Geschichten sind toll, erzählen lebhaft von der Vergangenheit und Design und Druck sind professionell und hochwertig. Wer sich an der Finanzierung beteiligt hat, hat also wirklich auch etwas bekommen für sein Geld.

Es heißt immer, Crowdfunding-Aktionen seien total zeitaufwändig – stimmt das aus Ihrer Sicht?

Absolut. Ich war monatelang damit beschäftigt. Man kann nicht einfach irgendeine Idee irgendwo abladen und dann erwarten, dass die Menschen ihren Geldbeutel öffnen. Das würde man selbst doch auch nicht tun!

Man muss erklären, organisieren, Fragen beantworten. Und das ständig. Außerdem ist die Arbeit ja nicht beendet, wenn das Projekt auf der Plattform erfolgreich war. Im Gegenteil: Dann geht’s los mit dem Versand der „Dankeschöns“ – also dem, wofür die Leute bezahlt haben.

Wie viel Zeit haben sie damals in Pressearbeit investiert? 

Ich kann das nicht wirklich in Stunden oder Tagen beziffern. Es war einfach irre viel Aufwand. Natürlich habe ich intensive Pressearbeit gemacht, mich um potentielle Sponsoren bemüht. In unserem Fall war das eine Agentur fürs Layout des Kalenders, eine Bildagentur für die Motive, eine Druckerei und sogar ein Lektorat.

Hatten Sie auch Ausgaben für Marketing oder dergleichen?

Mein Vorteil ist, dass ich mich mit Marketing auskenne, weil ich aus der Werbung beziehungsweise vom Marketing komme. Hätte ich mich selbst für meine Arbeit bezahlen müssen, hätte das Geld vom Crowdfunding vielleicht für mich gereicht, aber nicht mehr für einen Kalender.

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„Ich kam mir vor wie die kratzbürstige Managerin eines Stars!“

Wie ich gesehen habe, ist um ihre Großmutter ein medialer Rummel entstanden. So gab sie beispielsweise Interviews und Signierstunden. Wie hat sie all das  aufgenommen?

Das hat ihr unheimlich viel Spaß gemacht. Es hat auch jeder große Rücksicht genommen und so etwas wie Live-Interviews haben wir abgelehnt. Meine Großmutter ist natürlich auch nie in ein Studio oder eine Redaktion gefahren, alle mussten zu ihr nach Hause kommen. Das fand sie toll, ständig Besuch von netten jungen Leuten, die sich für ihre Geschichten interessieren.

War das alles nicht sehr anstrengend?

Natürlich habe ich darauf geachtet, dass es nicht zu viel wird, ich kam mir schon vor wie die kratzbürstige Managerin eines Stars!

Dass alte Menschen nicht aufs Abstellgleis gehören, dafür ist Ihre Großmutter das beste Beispiel. Haben Sie vielleicht von anderen Senioren gehört, die durch den Erfolg Ihrer Aktion nun auch ermutigt wurden, etwas ähnliches zu initiieren?

Nein, nicht wirklich. Aber ich möchte die Gelegenheit nutzen, hier einen Aufruf an eben jene Senioren zu starten: Wir wollen einen neuen „Kalender der Hundertjährigen“ machen und suchen dringend nach betagten Autorinnen und Autoren, beziehungsweise nach Menschen über 90, die mir eine Geschichte aus ihrem Leben erzählen möchten. Denn der neue Kalender soll nicht zwölf Geschichten einer Person enthalten, sondern idealerweise Geschichten von zwölf Personen. Meine Großmutter freut sich schon sehr auf ihre Rolle als Herausgeberin.

Kommen wir nochmals kurz zurück zum Thema Crowdfunding. Es gibt ja verschiedene Plattformen im Netz. Warum haben sie Startnext gewählt?

Weil die in Deutschland, in Berlin, sitzen und die gesamte Plattform – im Gegensatz zu Kickstarter damals – auf Deutsch ist. Das war mir vor allem im Hinblick auf die Zielgruppe wichtig. Gerade die älteren Herrschaften sind unheimlich skeptisch, wenn Sie im Netz etwas kaufen sollen. Was ja prinzipiell auch richtig ist.

In den letzten 100 Jahren hat sich unsere Welt komplett verändert. Wie geht Ihre Großmutter mit den neuen Errungenschaften wie Internet und Facebook um?

Sie ärgert sich immer ein wenig, wenn im Fernsehen darauf verwiesen wird, dass es alle weiteren Informationen zu einem Thema im Internet gibt. Ansonsten schaut sie sich gerne alles mögliche auf meinem Tablet oder Laptop an. Sie findet das super. Auch, wie einfach es vor allem für junge Leute ist, Kontakt aufzunehmen und zu halten. Vor allem meinem Sohn, er ist 18, erzählt sie gerne, wie mühsam das früher war mit dem Briefeschreiben.

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Ella Balkow scheint ja sehr offen für Neues zu sein. Besitzt sie vielleicht auch ein Smartphone?

Meine Großmutter ist inzwischen wirklich zu alt für ein Smartphone, aber mit 90 hätte sie sich sicher noch eins angeschafft.

Neben dem Kalender gibt es auch ein Buch, an dem Sie und Ihre Großmutter zusammen gearbeitet haben. Das klingt so, als hätten Sie beide Spaß daran gefunden, gemeinsam neue Projekte zu starten. Was ist als nächstes geplant?

Und ob wir Spaß haben! Wir planen ein Hörbuch, eine Neuauflage des „Kalenders der Hundertjährigen“ mit den Geschichten meiner Großmutter und – wenn wir das schaffen – eine neue Version des Kalenders mit Geschichten von anderen alten Menschen. Es wäre wirklich toll, wenn sich Interessenten bei mir melden würden. 100 Jahre alt müssen sie übrigens nicht sein, aber die 90 sollte überschritten sein. Für die jungen Leute gibt’s ja genug Angebote. Auch das Buch wollen wir überarbeiten und mit ein oder zwei neuen Geschichten anreichern. Demnächst werde ich auf unserer Seite erinnerungansleben.com auch ausführlich von den Plänen berichten.

Abschließend möchte ich natürlich die große, brennende Frage stellen, die wahrscheinlich jedem auf der Zunge liegt: Wie hat es ihre Großmutter geschafft, solch ein fast schon biblisches Alter zu erreichen?

Mit Bescheidenheit und einem sehr maßvollen Lebensstil. Sie hat nie etwas übertrieben, trinkt keinen Alkohol und raucht auch nicht. Außerdem liegt es natürlich in der Familie. Wer von ihren Geschwistern nicht gefallen ist oder schon als Kind einer Krankheit erlag, der ist richtig alt geworden. Meine Großmutter ist mit ihren 103 jedoch die Älteste und ich hoffe, ein paar ihrer robusten Gene hat sie an mich weitergegeben.

Vielen Dank für das Interview und schöne Grüße an Ihre Großmutter, Frau Balkow!

Bilder: privat


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Über den Autor

Jürgen Kroder

Jürgen bezeichnet sich als Blogger, Gamer, Tech-Nerd, Autor, Hobby-Fotograf, Medien-Junkie, Kreativer und Mensch. Er hat seine unzähligen Hobbies zum Beruf gemacht. Und seinen Beruf zum Hobby. Obwohl er in Mainz wohnt, isst er weiterhin gerne die Maultaschen aus seiner Heimat.

4 Kommentare

  • Was für eine großartige Sache und ein sehr sympathisches Interview! Und ich war bisher stolz auf meine End-70er-Eltern, weil die täglich surfen und sogar ein Smartphone nutzen 🙂

  • Wow! Großartig! Ich liebe solche Geschichten, die zeigen, das wir ältere Generation noch lange nicht zum alten Eisen gehören. Vor einem halben Jahr habe ich mit fast 67 ebenfalls bei startnext ein Crowdfundingprojekt erfolgreich abgeschlossen. Ich helfe älteren Menschen Computer und Internet mit viel Spaß und Erfolg zu nutzen und freue mich sehr, dass es noch sehr viele aktive ältere Menschen gibt, die lernbereit sind.
    Herzliche Grüße aus Berlin
    Roswitha Uhde