Es gibt unzählige Arten, Nachrichten online zu konsumieren. Zwischen Nachrichtenapp, Digitalkiosk, Instant Article, Datenjournalismus, Clickbait, Twitter und E-Paper findet man sich nur schwer zurecht. Hendrik Geisler führt in seiner Kolumne durch den Mediendschungel und schreibt über Apps, Tools und Services für Leser und Medienmacher. Diesmal: 5 Wünsche für den digitalen Journalismus 2016.
Nur noch wenige Tage, dann haben wir das Jahr 2015 hinter uns gebracht. Für den Mediendschungel ist es an der Zeit, bereits jetzt in die Zukunft zu schauen und dabei auch einen kurzen Blick in den Rückspiegel zu wagen. Ich habe fünf persönliche Wünsche für den digitalen Journalismus 2016. Wünsche, die geprägt sind von meinen Nachrichtenbedürfnissen, subjektiven Beobachtungen und dem Gefallen an manchen Entwicklungen, die dieses Jahr stattgefunden haben.
1. Die Zeitnot-News-App
Ich habe es in den letzten Wochen und Monaten am eigenen Leib erfahren: Hin und wieder muss man einfach Verpflichtungen erfüllen, die zum einen ein lästiges Muss darstellen, da der eigene Weg ohne deren Erfüllung in eine Sackgasse mündet, und zum anderen so ungeheuer viel Zeit fressen, dass man es nicht mehr schafft, an seinem gewohnten Tagesablauf festzuhalten. Bei mir hat sich das während des Schreibens meiner Abschlussarbeit für die Uni gezeigt. Der Wecker klingelte beinahe vier Wochen jeden Tag um 7 Uhr, rund eine Stunde später ging es in die Bibliothek, wo ich dann abgesehen von einer Mittagspause bis 19 Uhr gearbeitet habe. Das mag für viele hart arbeitende Leser jetzt nicht besonders grausam klingen, aber für mich bedeutete es jeden Tag rund zehn Stunden höchste Konzentration und große Unlust, nach Feierabend noch irgendetwas zu lesen.
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Für einen Heavy-News-Junkie wie mich war das quälend. Bis auf das Überfliegen der Meldungen am Abend bestand mein Nachrichtenkonsum aus dem Lesen der wichtigsten Meldungen morgens im Bus. Die erste Entscheidung, die jeden Morgen getroffen werden musste, war jene, welche App, welche Seite, welcher Aggregator am besten dafür geeignet ist, mir den besten Überblick über das Weltgeschehen zu verschaffen. Das Rennen wurde jeden Tag zwischen Facebook, Twitter, Flipboard und Upday ausgetragen, der schnelle Blick auf die Startseite von Spiegel Online durfte natürlich auch nicht fehlen. Für einen Überblick reicht diese Auswahl vollkommen, doch sie ließ mich immer nur an der Oberfläche kratzen. Denn nie wusste ich wirklich vorher, ob das Gelesene die so rare Zeit wert ist, die ich mir für die Lektüre von den etwa zehn Minuten Busfahrt abknapsen musste. Zudem hing es mir irgendwann auch zum Hals raus, immer lediglich die lautesten, größten, wichtigsten Nachrichten aufzunehmen. Ich will hin und wieder umherschweifen in der Lektüre, mit jedem Text mehr Lust auf den nächsten bekommen, richtiges binge-reading betreiben. Unmöglich in der beschriebenen Situation.
Was also brauche ich? Eine App, die es in der von mir gewünschten Form noch nicht gibt. Eine Zeitnot-News-App. Sagen wir, ich habe morgens zehn Minuten Zeit, mich intensiv zu informieren. Ich will davon nicht zwei Minuten damit verbringen, auf die Suche zu gehen. Das sind zwei verschwendete Minuten. Ich wünsche mir eine App, die mir Lesestoff für genau zehn Minuten gibt und mir auf der einen Seite die wichtigsten Meldungen unter die Nase reibt, auf der anderen Seite aber auch einen Vorschlag für ein kurzes Erzählstück macht. Eine App, die sich von Umfang und Art der Nachrichten vollkommen personalisieren lässt. Habe ich morgens 23 Minuten Zeit, um im Zug zu lesen, dann soll die App mir Lektüre für genau diese 23 Minuten auf mein Smartphone-Display schicken. Gerne 13 Minuten Nachrichten, zehn Minuten Reportage. Das wäre zumindest mein Ideal. Hat das nicht ungeheures Potenzial? Ich kann doch nicht der einzige sein, der seinen eigenen Nachrichtenbutler gerne in der Hosentasche mit herumtragen möchte oder?
2. Gebt mir endlich Poly/Mono!
Ich habe mich in diesem Jahr mit so mancher Idee rund um digitalen Journalismus beschäftigt und, wie man an meinem ersten Wunsch sieht, auch selber eine aus einem Bedürfnis geborene Idee für eine App gehabt. Wenn ich mir aber die Umsetzung einer bestimmten Idee wünschen kann, dann trifft es Poly/Mono. Im Oktober habe ich vom scoopcamp in Hamburg berichtet, wo unter anderem drei Teams der Hamburg Media School frische Ideen für News-Apps vorstellten. Das waren heard.it, News it! und Poly/Mono. Während sich heard.it und News it! vor allem darauf konzentrieren, Nachrichten in ungewohnter Weise an die Hörer- und Leserschaft zu bringen, sah ich schon damals das größte Potenzial in Poly/Mono.
Die App(-Idee) hat es sich zum Ziel gemacht, Nachrichtenbeiträge je nach Grundaussage des Textes einzuteilen. Ich kann auf einen Blick sehen, ob ein Text einer Aussage gegenüber positiv oder negativ eingestellt ist. Besonders gefällt mir daran, dass ich mir mal bewusst vor Augen führen kann, wie die andere Seite einer Medaille aussieht. Im Grunde lesen wir doch alle immer die gleichen Medien. Der eine holt sich seine Infos von taz, Spiegel Online und Twitter, der andere von FAZ, Zeit und Facebook. Im Endeffekt befindet sich jeder, auch wenn man sich bemüht, ein möglichst breites Wissen zu einem Thema zu bekommen, in einer Filterblase, die sehr persönlich gestaltet. Da lohnt doch einmal der Blick zur Gegenseite. Bewusst mal lesen, was der andere denkt und die eigene Überzeugung infrage stellen, die persönliche Argumentation überprüfen. Viel zu oft bestärkt man sich mit dem Gelesenen einfach in der eigenen Meinung und sucht Bestätigung für eine lange entwickelte Denkweise. Poly/Mono könnte das neben anderen Anwendungsmöglichkeiten ändern und so Diskurs fördern. Nur leider ist es bislang bloß eine Idee. 2016, lass diese Idee bitte reifen!
3. Seid ein bisschen mehr wie Blendle!
Was will ich damit sagen? Sollt ihr das Blendle-Modell kopieren, den Menschen bei Unzufriedenheit ihr Geld zurückgeben, alles mit „supernett“ kommentieren? Nein, bitte macht das nicht. Es gibt Blendle schon und sie machen ihre Sache super. Kopien sind nicht erwünscht. Bei der Wahl zum Jugendwort des Jahres lag „merkeln“ (keine Entscheidung treffen) lange vorne. Und genau wie die Bundeskanzlerin es geschafft hat, mit ihrer stoischen Ruhe in schwierigen Situationen ein neues Verb zu schaffen, so könnte das gleiche Schicksal Blendle widerfahren. Ich zumindest bin geneigt, das sonntägliche auf die Couch Fläzen und Durchblättern zahlreicher Zeitungen und Zeitschriften auf der Suche nach den besten Artikeln bald schon blendlen zu nennen. Vor einem Jahr war es beinahe undenkbar, dass es eine App schafft, innerhalb eines Monats 500.000 meist junge Menschen für Journalismus bezahlen zu lassen.
Es gibt doch alles kostenlos im Netz. Warum sollte jemals wieder jemand wirklich für Online-Journalismus zahlen? Ich bin doch nicht blöd und gebe einen müden Euro für etwas aus, das ich zwei Klicks weiter in anderer Form bekomme. Doch! Blendle hat etwas für quasi unmöglich Gehaltenes auf simpelste Art und Weise geschafft. Und das sind die Geschichten, die wir noch viel öfter brauchen. Erfolgsgeschichten, die in persönlichen Überzeugungen begründet sind. Das Rezept klingt einfach als es wohl ist: Man nehme sich ein als unbestreitbar geltendes Feld, stelle es auf den Kopf und strafe die Kritiker Lügen.
Mögliche Angriffsfelder? Werbung im Netz. Wenn Werbung nervt, will man sie halt nicht sehen. Erstellt Werbung, die interessant ist, die mir einen Mehrwert bietet. ‚Machen wir doch schon mit Native Advertising‘. Die Diskussion geht aber doch weiter, Native Ads sind anscheinend nicht die Dauerlösung. Heilsbringer der Werbeindustrie werden weiterhin gesucht. Ich weiß auch nicht, wie es funktionieren soll, bin mir aber sicher, dass da draußen jemand eine geniale Idee haben wird, wie sie Alexander Klöpping und Marten Blankesteijn mit Blendle für das Bezahlen von Journalismus im Netz hatten. Seid wie Blendle! Greift die als unlösbar erscheinenden Probleme an und verändert den digitalen Journalismus zum Guten!
4. Hört auf über „the next big thing“ zu reden!
Was ist the next big thing? Wen interessiert’s? Besucht man Medienkonferenzen, so bekommt man den Eindruck, die Welt bestünde nur aus großen Dingen. Will jemand eine Technologie, eine App, ein Geschäftsmodell als zukunftsweisend beschreiben, fällt beinahe sicher der Satz: Das ist the next big thing. Ich lüge nicht, diese Verdenglischung war dieses Jahr ständiger Begleiter. Und es nervt. Virtual Reality ist the next big thing. Blendle ist the next big thing. Native Ads sind the next big thing. Data Journalism ist the next big thing. Messaging-Apps sind the next big thing. Alles, aber auch wirklich alles ist the next big thing.
Warum muss immer alles das herausragendste Objekt der Welt sein? Kann man nicht einfach mal sagen, das ist eine tolle, eine begeisternde Sache? Unter „the next big thing“ würde ich etwas verstehen, was die Welt auf den Kopf stellt und die Konventionen auf Jahre hinaus bestimmt. Das letzte wirkliche „next big thing“ im Journalismus? Smartphones! Alles, was in Zukunft als „the next big thing“ bezeichnet wird, werde ich daran messen. Und nein, solange mir schwummrig ist nach dem Gebrauch von Virtual Reality – egal ob mit Google Cardboard, Samsung Gear VR oder Oculus Rift – ist auch VR nicht „the next big thing“. Kann ja spannend sein, virtuell in der Arktis hautnah dabei zu sein. Solange ich mich danach übergeben muss, schaue ich noch immer lieber normale Dokumentationen oder lese die National Geographic.
Fragt euch nicht ständig, welche Entwicklung ihr verpassen könntet. Springt nicht auf jeden Zug auf, der durch das Dorf fährt, nur weil schon Tausende mitfahren und euch zurufen, dass sie in Richtung Zukunft fahren. Macht nicht, was gerade angesagt ist. Macht das, was gebraucht wird. Zum Beispiel meine Zeitnot-News-App. Schreibt mir und wir gestalten sie gemeinsam. Ich erwarte auch gar nicht, dass sie „the next big thing“ wird.
5. Habt Spaß!
Was kann es besseres geben, als die Gegenwart des Journalismus zu erleben und mitzugestalten? Noch nie hatten wir so viele Möglichkeiten, journalistische Inhalte aufzusaugen. Niemals zuvor gab es so viel spannenden Content zu entdecken. Wir leben im Schlaraffenland des Journalismus und können neue Formen erschaffen und erleben. Also: nicht immer jammern! Habt Spaß, egal, ob ihr aktiv den Journalismus vorantreibt oder als Empfänger konsumiert. 2016 wird uns wieder neue Wege aufzeigen und ich habe jetzt schon ein Grinsen im Gesicht, wenn ich an all die frischen Impulse denke, die auf uns warten.
Frohe Weihnachten und kommt gut ins neue Jahr!
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