Wirtschaft

Wie Amazon das Problem des Journalismus auf E-Books projiziert

geschrieben von Tobias Gillen

Gut, vielleicht ist die Überschrift ein bisschen ketzerisch. Aber was Amazon mit seiner neuen Tantiemenabrechnung für E-Book-Autoren aktuell schafft, geht genau in die Richtung Hamsterrad, in dem der Journalismus heute feststeckt. Autoren sollen nicht mehr nach Büchern, sondern nach gelesenen Seiten bezahlt werden. // von Tobias Gillen 

Es geht um die E-Books, die über die E-Book-Flat Kindle Unlimited* ausgeliehen werden. Amazon bietet gegen eine Gebühr von 9,99 Euro seinen Kunden die Möglichkeit, nach eigenen Angaben 850.000 E-Books und über 2.000 Hörbücher zu konsumieren. Bislang war es so, dass die Autoren der E-Books aus einem Fonds bezahlt wurden, den Amazon jeden Monat stellt. Anteilig der Anzahl an E-Books, die ausgeliehen wurden, gab es eben den entsprechenden Betrag.

Nun aber stellt Amazon dieses Verfahren um. Ab dem 1. Juli 2015 basieren die Auszahlungen auf den gelesenen Seiten der jeweiligen Bücher. Nach Angaben von Amazon sei das „in Anlehnung an das konstruktive Feedback unserer Autoren“ passiert. In einer Mitteilung wird das neue Prinzip gleich vorgerechnet.


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Beispiel: Mehr gelesene Seiten, mehr Geld

Man geht davon aus, dass der Fondsbetrag bei 10 Mio. Euro liegt und im Monat insgesamt 100 Mio. Seiten gelesen wurden:

  • Wenn das 100-seitige Buch eines Autors 100 Mal ausgeliehen und vollständig gelesen wurde, verdient er 1.000 Euro (10 Mio. Euro x 10.000 Seiten dieses Autors/100.000.000 insgesamt gelesene Seiten).
  • Wenn das 200-seitige Buch eines Autors 100 Mal ausgeliehen und vollständig gelesen wurde, verdient er 2.000 Euro (10 Mio. Euro x 20.000 Seiten dieses Autors/100.000.000 insgesamt gelesene Seiten).
  • Wenn das 200-seitige Buch eines Autors 100 Mal ausgeliehen, jedoch im Durchschnitt nur zur Hälfte vollständig gelesen wurde, verdient er 1.000 Euro (10 Mio. Euro x 10.000 Seiten dieses Autors/100.000.000 insgesamt gelesene Seiten).

Man sieht also: Je mehr Seiten gelesen werden, desto höher das Gehalt des Autors. Und: Amazon – das ist keine neue Erkenntnis, klar – überwacht mehr oder minder jedes Wort, das wir lesen, wie lange wir auf einer Seite festsitzen (schnell durchblättern bringt nichts) und wann wir ein E-Book wieder aus der Hand legen. Der Leser wird in Zeiten der E-Books eben auch gläsern.

Kindle

Äpfel-Birnen-Vergleich mit dem Journalismus

Aber zurück zum Hamsterrad und dem Vergleich mit dem aktuellen Geschäftsmodell des Journalismus: Leser bringen Geld – pro Klick und angezeigter Werbung. Zieht man den Äpfel-Birnen-Vergleich und nimmt jeden Klick aus jedes Mal, wenn der Leser die Seite umblättert, haben wir den gleichen Spaß wie mit Online-Werbung: Inhalte werden nach Klicks und nicht nach Relevanz erstellt.

Oder anders gefragt: Warum sind Clickbait-Seiten wie Focus OnlineHuffington Post und Co. erfolgreich? Eben, weil sie Inhalte nach Emotionalität, Reiz oder Provokation erstellen, nicht aber nach wirklicher Relevanz auswählen. Nun ist ein Buch ja – meistens – kein journalistisches Produkt. Dennoch lässt sich der Kreislauf meiner Meinung nach ganz gut übertragen. Inhalte, die die Leser bei Laune halten, die die Leser provozieren, emotional ansprechen oder einfach sehr einfach zu konsumieren sind, könnten die schwere, tiefgründige Kost entsprechend ablösen.

Einfacher Spannungsbogen mit viel Action gesucht?

Zumal: Warum ist plötzlich ein leichtes, aber langes E-Book mehr wert als ein ausgearbeitetes und tiefergehendes Werk? The Atlantic stellt sich ähnliche Fragen und kommt zum Ergebnis: „Cliffhanger und Geheimnisvolles werden quer durch alle Genres belohnt, genauso wie alles, was Menschen süchtig hält. Auch wenn das bedeutet, dass Autoren weniger Betonung auf Nuancen und Komplexität legen.“ Ähnlich spekuliert Golem: „Möglich wäre, dass ein solches Modell Geschichten mit viel Action und einem einfachen Spannungsbogen fördert, die schnell zu konsumieren sind.“

Kindle 3

Außerdem müsste hier auch unterschieden werden: Belletristik liest man möglicherweise viel eher komplett (um eben das Ende zu erfahren) als ein Sachbuch, das für ein paar Informationen taugt. Wer sagt aber, dass das Sachbuch nicht im Umkehrschluss ähnlich viel Arbeit war? Wenn der Leser hier nicht alles liest, sondern zwischen den Kapiteln zu den für ihn interessanten Punkten springt, bekommt er weniger Geld? Das klingt nicht sonderlich fair.

Wir sprechen uns in einem halben Jahr wieder

Ob Amazon sich mit der neuen Regelung nicht ins eigene Fleisch schneidet und die Qualität der angebotenen und für die Kindle Leihbibliothek freigegebenen E-Books damit auf Dauer herabsenkt wird sich – vermutlich – schon bald zeigen. Wir sprechen uns in einem halben Jahr wieder, wenn die Regelung gegriffen hat.

Hoffentlich ohne große Qualitätseinbußen.

Über den Autor

Tobias Gillen

Tobias Gillen ist Geschäftsführer der BASIC thinking GmbH und damit verantwortlich für BASIC thinking und BASIC thinking International. Seit 2017 leitet er zudem die Medienmarke FINANZENTDECKER.de. Erreichen kann man ihn immer per Social Media.

6 Kommentare

  • Na ja, auch in Online-Vermarktung und Online-Journalismus kommt die Verweildauer. Und zwar als Qualitätsmerkmal. Man könnte das alles auch umgekehrt sehen: Es führt zu einer Qualitätssteigerung. Denn was zeigt mehr davon als das Leseverhalten des Lesers?

  • Interessante Einschätzung!

    Das Problem davor war, meine ich: bei einer Bezahlung pro Download werden Autoren von langen Werken benachteiligt. Das Honorar ist gleich – egal ob man 500 Seiten oder 50 Seiten schreibt. Das hat zu einem Qualitätsverlust geführt, kurze E-Books florieren – vergleichbar mit Klickstrecken auf Newsseiten.

    Vielleicht werden manche Autoren ihre Werke optimieren und mehr Cliffhanger einbauen oder es boulevardesker aufziehen. Aber das wird jeder für sich selbst entscheiden. Man baut sich damit auch eine andere Leserschaft auf. Das große Problem von Focus Online und Co: Sie haben zwar viele Leser, die aber keine hohe Bindung zur Marke haben. Wenig Loyalität heißt auch: wenn jemand anderes kommt, ist das Publikum wieder schnell weg.

    Gute Autorinnen und Autoren haben inhaltliche Prinzipien und leben von Ihrer Community. Es wird spannend zu sehen, wie sich der Markt entwickeln wird.

    Viele Grüße,
    Benjamin

  • Wenn der Seitenpreis sich durch den Buchpreis berechnen würde, dann wäre das System vielleicht sinnvoller. Fachliteratur hätte einen höheren Seitenpreis als ein Arztroman.

    Die Frage, die hier aber nicht erörtert ist, wie ist das „Konsumverhalten“. Persönlich würde ich ein Fachbuch eher kaufen, Unterhaltungsliteratur leihen. Vielleicht werden für einen persönlich wertvolle Inhalte eher gekauft, „wertlose“ geliehen.

  • Wieder ein guter Grund, warum ich Amazon seit langer Zeit „Good bye“ gesagt habe.

    Aus der Selbstperspektive verzichte ich gerne darauf zum „gläsernen“ Leser zu werden. Die Amazon-Seite nutze ich selbst nur noch zum Recherchieren. Ist für mich quasi eine Buchsuchmaschine geworden. Meine Lektüre lasse ich mir lieber vom lokalen Buchhandel liefern. Bei dem kann ich zumindest davon ausgehen, dass er in Sachen Steueroptimierung kein Double-Dutch-Sandwitch praktiziert.

  • Ich halte ohnehin nichts von der Buchflat-Rate. Sie ist in erster Linie ein Kundenbindungsstrategie von Amazon und insofern eine relativ aggressive Offensive des Marktführers an seine eventuell noch vorhandenen Konkurrenten. Die Offensive ist insofern aggressiv, weil sie ja einhergeht mit dem Druck auf die E-Book-Preise generell. Für Bücher, die hohe Einzelpreise haben von über 10 $/Euro lohnt es sich ja nicht, sich in die Pauschalmühle hineinziehen zu lassen.
    Ich würde zweierlei vermuten: Das Abrechnen nach gelesenen Seiten (welche „Seiten“ eigentlich im E-Book?) festigt das Flat-Preismodell als Modell für Niedrigpreisige Serien- und Genreliteratur. Zweitens: Die Schreiber werden noch mehr Patterson etc. nacheifern, also einer an Filmen geschulten Dramaturgie, so dass sich da ein Zweig von Literatur herausbildet, der wie nie zuvor von den Erfolgs-Metriken her bestimmt ist.
    Vielleicht ist das ganz gut, dass man künftig wieder eine klare Trennlinie hat zwischen dem Lesefutter, was früher Reich der Heftchen-Romane war, und allen anderen, Büchern, wo Autoren tatsächlich noch schreiben und nicht nur marktförmig produzieren.
    Weiß eigentlich jemand, wie das Flat-Angebot von den Lesern angenommen wird? Ist es überhaupt für Amazon ein lohnendes Geschäft oder dient es perspektivisch nur dazu, anderen Anbietern den Markteintritt zu erschweren?