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Basic Sunday: Die Legende des Dragster aus Dragonmoore

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Dragster war ein Held. Er war jemand, auf den Andere aufschauten und sich stets gerne mit ihm umgaben. Die Menschen jubelten ihm zu, sobald er auf der Bildfläche erschien und Dragster genoss die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde. Er war beliebt, er war mächtig, er war einzigartig. Eigentlich hatte er alles, was die Anderen sich auch wünschten und doch spürte er stets einen inneren Drang, sich weiterzuentwickeln und noch mächtiger zu werden. Irgendwann wollte er der mächtigste Krieger sein, den die Welt jemals gesehen hatte. Dragster war auf dem besten Weg dahin und das Einzige, was ihn von Zeit zu Zeit davon abhielt, war seine Mutter, die ihn dazu zwang, zwischendurch seinen Rechner auszuschalten und sich mit ihr zu unterhalten. Absolute Zeitverschwendung.

Wer war dieser Dragster?

Dragster hieß in der wirklichen Welt Martin und war 29 Jahre alt. Er lebte noch Zuhause mit seiner Mutter und genoss es Tag für Tag, dass er sich um nichts kümmern musste. Er war schon immer faul gewesen – faul und egoistisch. Schon seit seiner Kindheit war er ein Einzelgänger gewesen. Er suchte zwar den Kontakt zu seinen Mitschülern aber es war ihm eigentlich immer nur um seinen eigenen Vorteil gegangen. Früher oder später hatte sich das natürlich herumgesprochen, so dass er in den Pausen zumeist alleine sein Frühstücksbrot aß und den anderen Kindern beim Spielen zusah. Sein Leben änderte sich schlagartig, als er zum zehnten Geburtstag von seinen Eltern seinen ersten Computer geschenkt bekam. Die Welt der Spiele und der Online-Kommunikation nahm ihn vollkommen in seinen Bann. Seine Schulnoten litten unter seiner Begeisterung für die elektronische Welt und so verwunderte es auch seine Eltern nicht, dass er gerade einmal seinen Hauptschulabschluss nach Hause brachte.

Die Zeiten ändern sich

Fast 15 Jahre war das nun schon her. Martin lebte noch immer bei seiner Mutter und war fast nur vor dem Computer zu finden. Er war auch nicht mehr der süße Junge mit den kleinen Pausbäckchen und den blonden Haaren. Mittlerweile wog er 120 Kilo, hatte aschgraues Haar und kämpfte mit Rückenschmerzen. Die Rollläden in seinem Zimmer waren immer geschlossen. „Der Monitor spiegelt so“, hatte er mal gesagt. Wenn man dies so liest mag man denken, dass Martin ein sehr trauriges und einsames Leben führte. Doch dem war nicht so. Martin war zufrieden. Für ihn bestand sein komplettes Leben aus seiner Online-Welt, in der er so aussehen, so reden und so handeln konnte, wie er es wollte. Niemand hänselte ihn wegen seines Aussehens oder seiner etwas piepsigen Stimme. Jeder hatte Respekt vor ihm und sein eigener Körper war nur noch eine arbeitende Hülle, die für die Existenz in seiner virtuellen Welt absolut notwendig war.

Wenn Martin mal von seinem Rechner los kam, dann wurde er meistens von seiner Mutter dazu gezwungen. Die Unterhaltungen mit ihr beim Essen wurden aber auch immer seltener. Meistens antwortete er ihr mit „Ja“ oder Nein“. Zwischendurch war auch ein „Vielleicht“ oder „Mal schauen“ zu hören. Irgendwann antwortete er gar nicht mehr. So saßen sie nur noch am Esstisch und schwiegen sich an. Vor zwei Jahren begann er dann, sich sein Essen im Internet zu bestellen und es beim Zocken nebenbei zu verzehren. Seitdem sahen sie sich kaum noch.

Ein Schicksalsschlag veränderte sein Leben

Vor einem Jahr starb Martins Mutter. Er fand sie erst drei Tage später, nachdem er nichts mehr zum anziehen hatte. Sie lag in ihrem Bett und fast sah es so aus, als würde sie schlafen. Der große Verlust machte ihm sehr zu schaffen und so verbrachte er noch mehr Zeit mit seinem Onlinespiel als vorher. Dragster wurde mächtiger und war bald der unumstrittene Herrscher von Dragonmoore. Doch er war kein böser Herrscher. Er war klug und weise. Jeden Tag zur Mittagszeit schritt er über den Marktplatz und wurde von seinen Anhängern umjubelt. Nach Außen hin lächelt Dragster, aber innerlich trauerte er stets seiner Mutter hinterher. Er hatte sich nie richtig von ihr verabschieden können.

Im November vergangenen Jahres wurde Dragster seiner Welt entrissen, als ein Strommast unter der Last von Eis und Schnee zusammenbrach und der Strom ausfiel. Einen Tag und eine Nacht harrte Martin in seinem Haus aus, bis etwas Unglaubliches geschah: Zum ersten Mal seit Jahren öffnete sich still und leise die Eingangstür seines Hauses und Martin trat hinaus. Das Sonnenlicht blendete seine Augen. Er spürte die Wärme und den frischen, kalten Wind des Winters. Doch das Frösteln störte ihn nicht. Er genoss jeden einzelnen Augenblick. Martin ging lange spazieren und erfreute sich an dem Zwitschern der Vögel, dem Rascheln der Bäume und den Farben des Regenbogens. Eine kleine Träne rann seine Wange hinunter, als er endlich vor dem Grab seiner Mutter stand und sagte: „Ich vermisse dich…“

Dragster wurde zur Legende

Dragster wurde schon seit vielen Monaten nicht mehr in Dragonmoore gesehen. Legenden besagen, er wäre weitergezogen und hätte ein neues Leben begonnen. Weit weg von hier, hinter den Bergen und den weiten Tälern. Im fernen Land, so erzählt man sich, habe er das wahre Glück gefunden und würde das Leben leben, das er sich schon immer gewünscht hat. Ihm zu Ehren wurde auf dem Marktplatz eine Statue errichtet. Heute steht sie da, die eiserne Granitfigur des Dragster, und erzählt von einem stolzen Krieger, der die Stadt mehr als einmal vor dem Untergang bewahrte. Immer war er auf der Suche nach der großen Offenbarung. Wir alle sind uns sicher: Er hat sie gefunden.

(Alper Iseri / meetinx.de)

Über den Autor

Ehemalige BASIC thinking Autoren

Dieses Posting wurde von einem Blogger geschrieben, der nicht mehr für BASIC thinking aktiv ist.

18 Kommentare

  • Etwas weniger überzeichnet hätte die Geschichte ganz lustig werden können. Leider muss man hier immer wieder sagen :“Gabs schon in zigfacher Ausführung“

  • Da sich nicht jeder in jeder Facette des Internets auskennen kann, sehe ich hier nur eine weitere fantastische Geschichte. Freue mich schon immer auf Sonntags, Alper 🙂

  • Also mir hat die Geschcihte sehr gefallen, das erste Mal, das ich bei einer Geschichte hier Gänsehaut bekommen haben 😉

  • Vielen Dank für euer Feedback. Basic Sunday ist für mich im Gegensatz vielleicht zu einigen Lesern kein Ort, an dem ich jede Woche Aktuelles, Extremes oder Spannendes erzählen möchte. Ich schreibe Woche für Woche über die Dinge, die mir gerade durch den Kopf gehen. Mal ist es etwas Politisches, mal etwas aus den Medien, mal einfach eine kleine Geschichte, die zum Nachdenken anregen soll.

    Ich freue mich, dass auch die etwas „alltäglichere“ Geschichte einigen Lesern hier gefällt denn wie Till schon treffend bemerkt: Für die einen ist es nur eine Geschichte, die Anderen sehen, dass diese Geschichte viel mehr ist als nur reine Fiktion. Genau diese Art von Geschichte kommt Tag für Tag überall auf der Welt vor. Zwar nicht in exakt der gleichen Weise aber doch mit den grundsätzlich gleichen Elementen.

    Vielen Dank Till und Latita für euer positives Feedback. Ich freue mich sehr darüber und es ermutigt mich, auch mal solche Inhalte Sonntags zu veröffentlichen 🙂

  • Schöne Geschichte! Habe auch noch keine zig-fachen Ausfertigungen gesehen. Für mich war die Geschichte neu und des Nachdenkens wert. Danke!

  • Nette Geschichte. Mal was anderes als Iphone oder Zensurulla. Danke erstaml dafür… Ach ja. und wer schreibt „”Gabs schon in zigfacher Ausführung” wie Diabolo in Posting Nummer 2 fühlt sich vielleicht auf den Schlips getreten? 😀 HAHA

    Was macht denn dieser Dragster heute? Arbeitet der auch bei Basic Thinking?

  • Jeden Sonntag freue ich mich schon auf den nächsten!
    Für mich inzwischen ein wichtiger Teil von basicthinking (ihr seid sowieso top!).

  • Schöne Geschichte. Die Inhalte sind nicht allzu weit hergeholt, denn mittlerweile gibt es viele Menschen, die einen ähnlichen Lebensinhalt haben….

  • Schöne Geschichte. Die Inhalte sind nicht allzu weit hergeholt, denn mittlerweile gibt es viele Menschen, die einen ähnlichen Lebensinhalt haben……

  • Gute Geschichte. Ich entdecke Parallelen, obwohl es nicht den Tod eines nahen Verwandten brauchte, um WoW abzumelden. Und im Endeffekt ist jedes Spiel ja nur die Abbildung der Realität – in vereinfacht. Deshalb ist es so attraktiv für viele Menschen: Erfolge sind schneller zu realisieren und Charaktere einfacher zu formen als im „RL“. Wenn man das mal verstanden hat, kann man sich daran machen im RL den Dragster aus dem Spiel zu entwickeln 😉

    Schönen Sonntag euch allen,
    Philipp Hoffmann,

  • Das traurige an solchen Geschichten ist, dass sie nichts mit Fiktion und Märchen zu tun haben, sondern mehr als wahr sind. Ich habe eine Zeit lang ein bekanntes Online-Rollenspiel gespielt um mir das mal anzuschauen, zu sehen wie es ist und was die Magie dieser Spiele ausmacht. Anfangs war ich überrascht wie viele Kontakte man in kürzester Zeit aufbaut – aber diese Kontakte sind genau so schnell wieder weg, wenn du nur wenig da bist und dein Leben nicht in das Spiel verlegst. Ich habe damals angefangen die Menschen ein Stück weit zu verstehen, auch wenn ich selbst nie einem Bann der Sucht verfallen bin – denn dann hätte ich meine Freunde im wahren Leben nicht mehr besuchen können, an denen mir bis heute sehr viel liegt.

    Die damalige Zeit hat mich sehr nachdenklich gestimmt, denn nicht dass es ein so tolles Spiel ist, sondern dass immer mehr Menschen alleine zu Hause sitzen und nicht wissen was sie tun sollen, weil sie es nie gelernt haben sich zu beschäftigen und raus zu gehen, die Natur zu genießen oder einfach mal nichts zu tun, ist der Grund für die Flucht in solch ein Spiel.

    Zu viele Kinder lernen heutzutage nicht mehr wie schön das Leben sein kann, sondern werden vor dem Fernseher geparkt oder vor dem Computer. Dann sind sie ja ruhig und machen wenig Probleme – aber genau da fangen die Probleme erst an …

  • Hey Alper,
    mal wieder danke für die Sonntags-Lektüre.
    Sehr interessant und leider ein stets aktuelles Thema. Wieviele Menschen vegetieren vor dem PC vor sich hin, wenden sich von der realen Welt ab und bewegen sich nur noch in „ihrer“ Welt?
    Auch ich habe sicherlich zig mal Computerspiele gespielt in denen ich regelrecht versunken bin. Doch habe ich selbst nach einer gewissen Zeit den Aus-Schalter gedrückt um mal wieder etwas Abstand zum Spiel oder Onlinewelt zu bekommen und um sich um das Wichtige im Leben zu kümmern, sein Leben.
    Was hat man davon, wenn man Schlachten gewonnen hat, Meisterschaften errungen hat oder sonstiges erreicht hat… ist der Computer aus, hält man nichts mehr in der Hand außer Zeit, die verronnen ist.
    Danke Alper für diesen wahren Text.
    Wünsche Euch allen einen angenehmen Start in die Woche.

  • Ich finde den Artikel gut. Leider. Denn ich kenne jemanden, der vor den letzten drei Absätzen hängengeblieben ist.

  • Nun ja, ein Märchen der Neuzeit, das bis zum 3. Absatz aber in einigen Fällen dichter an der Realität ist, als mancher glauben mag. Martin fand, wenn auch auf schmerzliche Weise, den Weg hinaus. Hoffen wir, daß es anderen ohne Schicksalsschläge gelingt, die Stadt zu verlassen oder nur noch gelegentlich vorbei zu schauen.

  • Mal wieder eine schöne Geschichte. Etwas stark überzeichnet und sehr stark auf bekannte Klischées abgezielt – aber Hey! It’s a story 😉

    Allerdings verwirrt mich die Zeit ein wenig, vor 15 Jahren gab es die „Oline Kommunikation“ ja noch gar nicht so krass wie heute… und ich war damals 11… uhoh…
    (Und ja: Ich hatte nen „PC“ + Internetzugang ^^)