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„Finger weg“: Ja, auch Netflix kann unterhaltsamen Reality-TV-Trash

Wie viele Serien und Filme gibt es eigentlich auf Netflix? Ich habe keinen Schimmer, aber sind vermutlich genug, um die Corona-Krise auch noch bis 2022 aussitzen zu können. Dennoch haben wir manchmal das Gefühl, schon an Grenzen zu stoßen, wenn wir soeben eine Serie abgeschlossen haben und dann durchs Angebot blättern um herauszufinden, welche Serie man als nächstes „bingen“ will.

So ging es mir kürzlich und ich landete dann irgendwie bei Hemlock Grove — eine sehr krude Vampir-/Werwolf-Serie. Gestern war ich irgendwann damit fertig und befand mich dann wieder auf der Startseite von Netflix, als mir „Finger weg!“ ins Auge stach. Seit einiger Zeit blendet Netflix Charts-Plätze ein, so dass man erkennen kann, welche Serien gerade bei den Zuschauern angesagt sind. „Finger weg!“ belegte da den ersten Rang — Grund genug also, dass ich das mal unter die Lupe nehme.

Auf den ersten Blick sieht man sofort, dass wir es hier eben nicht mit einer der üblichen Serien zu tun haben, sondern mit waschechtem TV-Trash, wie wir ihn auch aus der deutschen TV-Landschaft mit RTL-Hintergrund kennen. Egal, ob es Temptation Island oder Love Island heißt, ob die Protagonisten nackt sind oder nicht, im Grunde geht es immer ums gleiche: Es sollen sich Paare finden und dazu schickt man eben einen Haufen Kandidaten an einen schönen Strand, der entsprechende Bilder verspricht.

Das ist in den allermeisten Fällen intellektuell unterste Schublade — heißt ja nicht umsonst Trash TV, bisweilen aber eben auch unterhaltsam, erst recht wenn man diverse Promi-Formate in irgendwelchen Dschungelcamps, Sommerhäusern oder unter Palmen berücksichtigt. Dass hierbei die Promis ihre vermeintliche Prominenz dann nur aus Shows dieses Kalibers „erarbeitet“ haben oder weil sie 7. bei GNTM oder 5. beim Bachelor geworden sind, soll hier jetzt mal keine Rolle spielen.

Auch Netflix ist also auf diesen Zug aufgesprungen, der die Gunst des Zuschauers verspricht. „Finger weg“ ist da natürlich keine Premiere, schon Formate wie „Love is blind“ oder „The Circle“ liefen ja bereits sehr erfolgreich. Jetzt also „Finger weg“ oder „Too hot to handle“, wie es im Original heißt.

Das Setting dieser Show erinnert tatsächlich auch dann an x andere Dating-Formate: Pack zehn junge und willige Single-Menschen beiderlei Geschlechts in eine prächtige Villa an einem schönen Strand, gib ihnen Alkohol und halte mit der Kamera drauf, damit wir zuschauen können, was daraus wird. Es gibt aber einen besonderen Twist — schaut mal in den Trailer rein:

Schöne Menschen, traumhafte Location, Alkohol, Sonne, knisternde Atmosphäre — es sieht aus, man hätte diese zehn zumindest optisch ansprechenden Gestalten direkt in einen Baccardi-Werbespot geworfen. Hut ab für die Leute, die diese Zehn gecastet haben: Selten habe ich so einen Haufen selbstverliebter, oberflächlicher Low-Performer gesehen, deren einzige Sorge es ist, dass man bis zur Dämmerung keinen anderen Körper findet, den man beim Sex vollschwitzen kann.

Küssen und f***en verboten

Der Clou der ganzen Show ist jetzt der, dass sie genau das nicht dürfen — also Sex haben. Oder Fummeln. Oder Knutschen. Ja, ist tatsächlich so — während alle anderen Formate darauf hoffen, dass sich irgendwas Kribbelndes ergibt, damit man mit der Cam draufhalten kann, läuft es bei „Finger weg“ genau umgekehrt: Alles ist erlaubt außer eben Sex. Dass das kein großes Hallo gibt, als die zehn Sexsüchtigen das nach einem halben Tag erfahren, an dem sie sich an ihren Cocktails, der Sonne und ihrer eigenen Schönheit besoffen haben, dürfte klar sein.

Doch, dass man die Menschen aufgrund ihrer Beziehungsunfähigkeit, Selbstverliebtheit und Sexlust auswählt und ihnen dann das Einzige verbietet, auf das sie jetzt Bock haben — diese Idee ließ mich schmunzeln und so ließ ich mich drauf ein und stürzte mich in die erste Folge. Und ja: Ihr bekommt genau das, was euch von vornherein versprochen wurde: Menschen, die überdurchschnittlich schön und unterdurchschnittlich intelligent sind.

Schaue ich deswegen manchmal solche Formate? Weil ich mich am TV überlegen fühlen kann, da ich ja nicht so dumm bin wie die? Jau, kann sein — den Schuh werde ich mir wohl anziehen müssen. Auch gestern dauerte es wieder ein paar Minuten, bis mir klar wurde, dass diese Überheblichkeit meinerseits ungefähr genau so sympathisch ist wie das oberflächliche, affektierte Verhalten der Protagonisten auf dem TV-Screen. Erst recht, wenn man dazu weiß, dass der Verfasser dieser Zeilen die Show geglotzt hat, während er mit seinem Workout beschäftigt war und den unangenehm fetten Körper ins Schwitzen brachte, während ein perfektes Sixpack nach dem nächsten über den Bildschirm flimmerte.

Und ja, ich schrieb Workout — auch simpelste Step-Übungen zählen schließlich! Während mir also vom Steppen warm wurde, kamen die zehn Kandidaten in Wallung beim Gedanken, wer jetzt bei nächster Gelegenheit wen durchballern würde. Die eiskalte Dusche gab es dann nach 12 Stunden, als nämlich Lana die Regeln erklärte. Wer Lana ist? Die „künstliche Intelligenz“ und gute Seele der Villa. Die KI ist dabei natürlich nur eine weibliche Stimme aus dem Off, ähnlich wie wir es von „Big Brother“ kennen. Die Hardware, in der Lana wohnt, steht in jedem Zimmer und sieht aus, als hätte es ein Echo-Device von Amazon oder ein Google Home mit einem Raumerfrischer getrieben.

Die Regeln im Groben: Zehn Kandidaten (Aus den USA, England, Kanada, Irland, Australien) werden vier Wochen in ein wunderschönes Resort in Mexiko unter ein Dach gepackt und es gibt für den Sieger ein Preisgeld von 100 000 US-Dollar. Klitzekleiner Haken: Jedes mal, wenn sich zwei Protagonisten küssen oder schlimmeres miteinander anstellen, gibt es eine Geldstrafe. Die Kohle wird direkt vom Preisgeld abgezogen.

Erreichen möchten die Macher der Show damit, dass diese selbstverliebten Beziehungs-Legastheniker nicht das machen können, was sie sonst tun: Jemanden kennen lernen, ins Bett schaffen und nach dem Sex nie wiedersehen. Stattdessen sollen sie sich mit den Menschen, zu denen sie sich hingezogen fühlen, auseinandersetzen und herausfinden, was diese Leute eben außer schönen Körpern so auf der Pfanne haben.

Ist eigentlich ja ein lobenswerter Ansatz in einer Zeit, in der wir in Apps nach Links und Rechts wischen können, um über eine Person zu richten und dabei vielleicht wirklich tolle Menschen als chancenlos einstufen, ohne uns nur zehn Sekunden mit ihnen befasst zu haben. Wie nachhaltig das Konzept ist und ob Personen wie die hier zusammengesuchten tatsächlich fürs Leben aus diesem Ansatz lernen — ich bin skeptisch.

Übrigens will ich mich gar nicht davon freisprechen, auch zunächst auf die Optik eines Menschen anzusprechen. Bei der Vorstellung hatten es mir direkt Chloe und Francesca angetan. Wenige Minuten später wollte ich mir dafür dann direkt selbst ins Gesicht boxen, weil sich diese beiden als so dumm herausstellten, dass bezweifelt werden darf, dass die beiden ganz allein in den Flieger nach Mexiko gefunden haben.

Chloe selbst bezeichnete sich anfangs direkt als nicht so ganz hell. Zu dem Zeitpunkt dachte ich, dass das ihre Masche sei — es stellte sich heraus, dass es schlicht eine maßlose Übertreibung war. Ihr Intelligenzquotient? Ich tippe auf etwas im hohen, einstelligen Bereich: So etwa 8 vielleicht — ab 10 fängt ein Ball an zu rollen.

So saß — bzw steppte — ich also davor und kam aus dem Staunen nicht raus. Wie selbstbewusst können Menschen eigentlich sein? Und wie sehr von sich selbst begeistert? Noch mehr staunte ich darüber, mit was für schlechten Sprüchen größtmögliche Erfolge beim anderen Geschlecht erreicht werden können.

Als Vorsitzender des „Gesicht wie ein Sack Schrauben“-Clubs klappt mir beim Zusehen echt die Kinnlade runter, weil es schlicht eine ganz andere Welt ist als die, die ich kenne.

The Regels sind the Regels

Wenn man zehn Menschen zusammenpackt, die allesamt jetzt nicht die hellsten Kerzen auf der Torte sind, erlebt man mitunter auch eine erstaunliche Einigkeit bei ihren Lebensgrundsätzen. Gleich mehrfach hört man also den Spruch: „Regeln sind dazu da, um gebrochen zu werden“. Kann man so pauschal sagen, ist aber natürlich Quatsch.

Aber sei es drum — es kommt natürlich so, wie es kommen muss und das erste Paar knutscht herum, ohne sich wirklich um die angedrohte Strafe zu scheren. Die Konsequenz folgt schnell: Lana ruft alle Kandidaten zusammen und verkündet, was für diese Knutscherei fällig wird — insgesamt 3 000 Dollar werden für diesen Regelverstoß vom Preisgeld abgezogen.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt rechnete ich damit, dass diese geistigen Tiefflieger es fertig bringen können, nicht nur das komplette Preisgeld zu versexen, sondern zudem noch diverse Kleinkredite während der vier Wochen aufnehmen müssen, damit es passt. Ganz so schlimm wurde es dann aber nicht, zumindest in den sechs von acht Folgen, die ich bislang geschaut habe.

Ab diesem ersten Verstoß wusste man jedenfalls vor Ort, wie empfindlich das Preisgeld abgeknabbert werden kann und das schwang dann in jeder Entscheidung mit: Will man jetzt knutschen und scheißt auf weitere 3 000 Dollar, die weg sind — oder versucht man es so, wie Lana es gerne hätte und probiert mal dieses „Kennenlernen“ aus.

Aufgelockert wurde das Gebalze durch nachträglich eingeschleuste Kandidaten und durch Workshops, mit denen die Macher der Serie ihre schönen Helden tatsächlich dazu bewegen wollen, sich mit Gefühlen, Konsequenzen, Fehlern, Verantwortung etc auseinanderzusetzen, also mit all den Dingen, die man sonst mit Leichtigkeit ausblendet.

Das wirkt manchmal ein bisschen sehr bemüht, scheint aber bei dem ein oder anderen tatsächlich etwas zu bewegen, so dass gleich mehrere Teilnehmer ihr Verhalten hinterfragen lernen.

Mein Fazit: Ein Genuss für Trash-TV-Fans

Wer mich persönlich kennt oder zumindest in den sozialen Netzwerken mit mir verknüpft ist, wird es wissen: Shows wie diese sind meine guilty Pleasures. Wobei ich hier aber auch nicht alles schauen kann. Irgendwann konnte ich Formate wie „Schwiegertochter gesucht“ nicht mehr ertragen, in denen Menschen einfach nur vorgeführt und der Lächerlichkeit preisgegeben werden.

Aber wenn sich Möchtegern-Promis zum Löffel machen wollen, schalte ich gerne ein. Mir ist natürlich klar, dass genügend Menschen über diese TV-Formate die Nase rümpfen und eine ganz klare Meinung zu den Idioten haben, die sich wohl sowas anschauen. Das stört mich aber nicht, weil ich mit recht großer Sicherheit sagen kann, dass ich sowohl Trash-TV schauen und dennoch ganze, komplette Sätze bilden kann.

Gerade in Zeiten wie diesen sind auch solche Trash-Geschichten ein gerne genutztes Ventil. Man fährt das Gehirn auf Notbetrieb runter und kann ganz gechillt vorm Fernseher abspacken und sich darüber freuen, dass sich die Leute da so benehmen, wie sie es nun mal tun. Ist es traurig, dass es so oberflächliche Menschen gibt und dass die ganze Dating-Nummer mehr und mehr zur Fleischbeschau verkommt? Ja, zweifellos. Ändert aber nichts daran, dass „Finger weg!“ richtig unterhaltsam ist und mir das bisherige Glotzen der Folgen Spaß gemacht hat. Dazu kommt auch, dass diese Hochglanzbilder von schönen Menschen in wunderschöner Location direkt wieder Fernweh und Lust auf Urlaub macht, gerade in Zeiten wie diesen.

Charaktere wie „Jesus“ sind mir direkt ein bisschen ans Herz gewachsen und ich kann nicht verhehlen, dass ich darauf hoffe, dass dieser Trash eine zweite Staffel spendiert bekommt und die Macher auch dann wieder so ein glückliches Händchen bei den Kandidaten beweisen 😉 Wer grundsätzlich solchen Formaten gegenüber abgeneigt ist, wird selbstverständlich auch mit dieser Show nicht glücklich. Wer aber gerne mal in solchen Quatsch reinschaut, sollte sein Glück durchaus mal mit „Finger weg!“ versuchen.

PS: Die Idee zur Show kam dem Kopf hinter „Too hot to handle“ — Laura Gibson — übrigens beim Schauen ihrer Lieblings-Folge von Seinfeld. Dort müssen die Protagonisten um Jerry Seinfeld nämlich so lange wie möglich enthaltsam leben. Die gute Frau Gibson witterte dahinter schon lange ein lupenreines TV-Format — und die Umsetzung kann sich tatsächlich sehen lassen, wenn man gewillt ist, sich auf so etwas einzulassen 😉

Über den Autor

Ehemalige BASIC thinking Autoren

Dieses Posting wurde von einem Blogger geschrieben, der nicht mehr für BASIC thinking aktiv ist.