Wirtschaft

Drastische WHO-Studie zu Überstunden: Der Arbeitsmarkt als Todesfalle

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Unsplash.com / Kari Shea
geschrieben von André Gabriel

Überstunden sind ein Balanceakt zwischen potenziellem Risiko und tatsächlichen Folgen. Solange Letzteres noch weit entfernt scheint, ist alles okay – zumindest für Workaholics. Doch wie viel Eigenanteil liegt in der Überarbeitung? Ein Kommentar.

Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) gibt drastische Zahlen preis. Das Risiko, tödlich zu erkranken, sei wesentlich höher, wenn Menschen im beruflichen Kontext sehr regelmäßig mindestens 55 Wochenstunden leisten.

Wie viele Überstunden sind normal?

Die ehrliche Antwort: gar keine. Ein Arbeitsvertrag gibt die zu leistende Zeit vor. Und dann haben wir in Deutschland auch noch ein Arbeitsrecht. Natürlich sieht die Realität anders aus – das beginnt mit juristischen Schlupflöchern in Form von Vertragsklauseln, die eine bestimmte Anzahl an Überstunden direkt als abgegolten erachten.


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Die oft realistische Antwort: Alle, die benötigt werden – zumindest aus Sicht vieler Führungskräfte. Eine Selbstverständlichkeit, deren Ursache meist im eigenen Verhalten liegt: Wenn ich das so handhabe, kann ich es auch von meinen Mitarbeitenden erwarten. Das ist vor allem in der Start-up-Szene ein Problem.

Wie groß sind die Risiken durch Überstunden?

Sehr groß. Allerdings ist es die Krux der Theorie, die uns im Leben oft begegnet. Der Verstand weiß Bescheid. Doch bis ein konkretes Ereignis eintritt, halten wir es dennoch für unwahrscheinlich. Wir Menschen reagieren häufig erst, wenn es zu spät ist.

Gemäß der WHO-ILO-Studie können wir in einigen Fällen aber nicht mehr reagieren. Seit dem letzten Millenniumwechsel sind die in Bezug zu Überarbeitung und Überstunden stehenden Sterbefälle durch Herzkrankheiten bis zum Jahr 2016 exorbitant gestiegen: um mehr als 40 Prozent.

Rechnet man die kontextuell relevanten Todesfälle im Zuge eines Schlaganfalls hinzu, ergibt sich die folgende weltweite Zahl: Etwa 745.000 Menschen verloren in dem Zusammenhang ihr Leben. Allein im Jahr 2016. Laut WHO ist die Überarbeitung somit „der führende Risikofaktor für Berufskrankheiten.“

Liegt die Lösung auf der (eigenen) Hand?

Ja und nein. Eine simple Schlussfolgerung wäre die gezielte Suche nach einem Job, in dem Überstunden keine Rolle spielen. Dass das leichter gesagt als getan ist, steht außer Frage. Denn gibt es so eine Stelle in dem Bereich, in dem ich arbeiten möchte und ausgebildet bin?

Davon abgesehen deckt sich die Realität nicht immer mit den Versprechungen in Inseraten und Bewerbungsgesprächen. Also hin zum nächsten Arbeitsverhältnis, bis die Wunschstelle gefunden ist? Das mindert wiederum die Qualität des Lebenslaufs.

Schon existiert ein erster Teufelskreis, den viele Menschen trotz Unzufriedenheit durch zu viele Überstunden nicht durchbrechen.

Manchmal sind wir unseres eigenen Glückes Schmied. Global und vollumfänglich wandelt sich die vermeintliche Lebensweisheit aber zu einer Floskel, denn wie viele Menschen haben die Freiheit, aus verschiedenen Angeboten zu wählen? Davon abgesehen ist es immer ein Reagieren auf bestehende Muster. Die andere Richtung ist das Ziel.

Arbeitgebende, übernehmt Verantwortung!

„55 Stunden oder mehr pro Woche zu arbeiten, ist ein ernsthaftes Gesundheitsrisiko“, sagt Maria Neira von der WHO. Sie führt aus:

Es ist an der Zeit, dass wir alle, Regierungen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, aufwachen und erkennen, dass lange Arbeitszeiten zu einem vorzeitigen Tod führen können.

Es ist grundsätzlich sinnvoll, am Anfang einer Kausalkette anzusetzen. Also bei einem Gesetz, das Arbeitnehmer:innen besser schützt, und bei der Erkenntnisbildung auf Seiten der Arbeitgebenden, dass gesunde und glückliche Mitarbeiter:innen produktiver sind. Eigentlich logisch.

Hier existiert auch kein Spielraum in Form von Ausgleichsleistungen wie gestelltem Mittagessen oder vergünstigten Mitgliedschaften fürs Fitnessstudio. Solche Benefits sind löblich, aber sie sollten als grundlegende Geste zur Motivationssteigerung fungieren, nicht als Rechtfertigung für Überstunden.

Überstunden und Wertschätzung

Faktisch verharren viele Menschen in mindestens empfundenen Drucksituationen nach dem Motto: Wenn ich die Überstunden nicht leiste, verliere ich meine Arbeit. Die meisten Angestellten befinden sich demnach in einer starken Abhängigkeit.

Wenn zusätzlich die Wertschätzung für die erbrachte (Mehr-)Leistung fehlt, erhöht sich der Stressfaktor schnell um ein Vielfaches.

Ich selbst arbeite derzeit wöchentlich mehr als 55 Stunden und bin ein Paradebeispiel für den eingangs gezeichneten Arbeitstyp. Ich weiß, dass es auf Dauer nicht gesund sein kann, ändere aktuell aber nichts daran.

Für mich liegt der Grund im selbstständigen Arbeiten. Einerseits kann ich jederzeit vom Schreibtisch aufstehen und eine (längere) Pause machen oder den Arbeitstag sogar abbrechen. Möglicherweise müsste ich vorher zwei, drei E-Mails schreiben, doch an sich bin ich frei und flexibel.

Andererseits bringt mir jede Überstunde in der Regel einen direkten finanziellen Mehrwert. Und auch das funktioniert als eine Form von Wertschätzung.

Warum schreibe ich das? Ganz sicher nicht, um meine Lage hervorzuheben, sondern um deutlich zu machen, wie schnell wir uns hinter Erklärungen verstecken, die Risiken ausblenden und sie bewusst eingehen.

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Über den Autor

André Gabriel

André Gabriel schreibt seit Januar 2021 für BASIC thinking. Als freier Autor und Lektor arbeitet er mit verschiedenen Magazinen, Unternehmen und Privatpersonen zusammen. So entstehen journalistische Artikel, Ratgeber, Rezensionen und andere Texte – spezialisiert auf Entertainment, Digitalisierung, Freizeit und Ernährung. Nach dem Germanistikstudium begann er als Onlineredakteur und entwickelte sich vor der Selbständigkeit zum Head of Content.