Ist es möglich, schlechte Erlebnisse bewusst aus unserem Gehirn zu löschen? Aktuelle neurologische Studien legen nahe: Wir können Dinge durchaus aktiv vergessen. Wie funktioniert das genau und ist das überhaupt wünschenswert?
Der nervige Ohrwurm oder das peinliche Vorsingen vor den Klassenkameraden damals in der Schule: Wir alle haben sicher so einige Dinge in unserem Leben, die wir gerne aktiv vergessen würden.
Bislang gingen Forscher allerdings davon aus, dass Vergessen eher etwas Unbewusstes ist. Neue Untersuchungen zeigen allerdings, dass wir Erinnerungen aktiv vergessen können. Könnten wir damit bewusst steuern, was wir behalten und was wir vergessen?
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Wer nichts vergisst, kann sich nichts merken
Aktuelle Studien legen das zumindest nahe.
Doch die Forschung steht noch am Anfang. Denn bislang haben Wissenschaftler sich vorwiegend mit der Frage beschäftigt, wie wir Informationen aufnehmen, verarbeiten und behalten. Der Umkehr-Prozess, also das Vergessen, ist erst seit Kurzem in den Fokus der Wissenschaft gerückt.
Das ist eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass wir viel mehr Dinge in unserem Leben vergessen als behalten. Du magst dich zum Beispiel heute noch sehr gut daran erinnern, worüber du letzte Woche mit den Kollegen im Büro gesprochen hast oder was du vor fünf Tagen gegessen hast.
Doch wirst du das auch noch wissen, wenn du 70 bist? Höchstwahrscheinlich nicht.
„Das ist ja auch nicht wichtig“, magst du jetzt sagen. Und genau so ist es. Wenn sich unser Gehirn wirklich jedes Detail aus unserem Leben merken würde, wären wir komplett überfordert. Darum vergisst unser Gehirn Dinge, die nicht wichtig sind.
Doch unser Vergessensprozess geht sogar darüber hinaus. „Ohne Vergessen hätten wir überhaupt keine Erinnerungen“, sagt Oliver Hardt. Hardt erforscht die Prozesse von Erinnern und Vergessen an der McGill Universität in Montreal.
Die große Frage aber ist: Wie genau funktioniert das Vergessen in unserem Gehirn und wie entscheidet unser Gehirn, was unwichtig ist und was nicht?
Passiv vergessen vs. aktiv vergessen
Forscher gehen davon aus, dass wir eine Art Gedächtnisfilter haben.
Das funktioniert folgendermaßen. Zunächst behalten wir so viele Dinge wie möglich aus unserem aktuellen Alltag. Schließlich weiß unser Gehirn noch nicht, was davon wichtig sein könnte. Mit der Zeit jedoch, verblassen die meisten Erinnerungen, weil unser Gehirn sie als unwichtig einstuft.
Vergessen funktioniert also wie ein Filter, bei dem wichtige Erinnerungen bleiben und Unwichtiges ausgesiebt wird.
Es gibt aber mehr als eine Form des Vergessens. Genauso wie unser Gehirn verschiedene Methoden hat, um sich Dinge zu merken, gibt es auch unterschiedliche Vergessensmechanismen.
Passiv vergessen
Lange ging man davon aus, dass wir das meiste passiv vergessen – also einfach durch verschiedene physische Alterungsprozesse im Körper.
Denn unser Gehirn gelangt über Neuronen-Verbindungen zu unseren Erinnerungen. Sterben Neuronen ab oder altern diese Verbindungen, ist es für unser Gehirn irgendwann nicht mehr möglich, zu einer bestimmten Erinnerung zu gelangen – und wir haben sie vergessen.
Aktiv vergessen
Doch neue Studien deuten darauf hin, dass unser Gehirn das Ganze viel bewusster steuern kann. Wir können also auch aktiv vergessen. Verschiedene Experimente mit Fliegen und Mäusen haben gezeigt, dass unser Gehirn bei der Bildung neuer Erinnerungen Dopamin ausstößt.
Sagen wir mal, du verbrennst dich, weil du eine heiße Herdplatte anfasst. Dann speichert dein Gehirn das ab. Wird dieser Reiz allerdings eine Weile nicht mehr reaktiviert, löscht dein Gehirn diese Information. Das nennen Forscher „aktiv vergessen“.
Die Forscher schließen daraus, dass das Vergessen und nicht das Behalten von Informationen für unser Gehirn der Grundzustand ist. Doch was passiert eigentlich mit den Dingen, die wir vergessen? Wo landen die gelöschten Informationen?
Wir vergessen nie wirklich
Wissenschaftler vermuten, dass vergessene Informationen nicht komplett verloren gehen. Experimente mit Tieren haben gezeigt: Selbst, wenn die Neuronen-Verbindungen nicht mehr aktiv sind, bleiben die Gene, die mit diesen Erinnerungen verbunden sind, aktiv.
Forscher am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried konnten zeigen, dass der Zugang zu diesen vergessenen Erinnerungen erschwert wird, die Nervenzellen-Verbindungen selbst aber bestehen bleiben.
Mit anderen Worten: Wir vergessen nie wirklich. Die Erinnerungen schlummern noch irgendwo in uns.
Wenn das tatsächlich stimmt, ist aber auch klar: Damit könnten wir bestimmte schöne Erinnerungen bewusst neu aktivieren – oder eben andere unschöne Erlebnisse aktiv vergessen.
Wollen wir wirklich alles Schlechte vergessen?
Das wäre auf der einen Seite eine interessante Möglichkeit, um eine Fremdsprache, die du mal gelernt, aber vergessen hast, wieder zu aktivieren. Auf der anderen Seite ergeben sich daraus neue Chancen zur Behandlung von Demenz-Krankheiten wie Alzheimer. Auch die Trauma-Forschung könnte davon profitieren.
Selbst in der Technologie könnte es helfen, Künstliche Intelligenz (KI) besser zu programmieren. Denn wenn wir wollen, dass eine KI relevante Prozesse lernt und lediglich die (für die Anwendung) wichtigen Informationen behält, müssen auch KIs lernen, wie Menschen zu vergessen.
Gleichzeitig stellen sich natürlich auch ethische Fragen. Denn wenn man Erinnerungen derart bewusst steuern kann, kann man sich schon ausmalen, wie einfach es wäre, Menschen zu manipulieren.
Auch ist natürlich nicht klar, ob es wirklich so gut für uns ist, all unsere negativen Erfahrungen auszulöschen.
Sie machen uns schließlich auch aus und wir haben aus ihnen gelernt. Was ist, wenn es dann einen Domino-Effekt gibt? Du löschst ein unschönes Erlebnis. Daran sind aber viele andere Erinnerungen gekoppelt. Vergessen wir diese dann auch alle? Bleiben wir verwirrt? Schadet uns das vielleicht mehr als es uns hilft?
Auf all diese Fragen hat die Wissenschaft bislang noch keine Antworten. Trotzdem kann es im Alltag als Stressbewältigung durchaus hilfreich sein, dein Gehirn ein wenig zum aktiven Vergessen zu trainieren.
So kannst du dein Gehirn trainieren, aktiv zu vergessen
Schließlich kennen wir alle das Gedankenkarussell, das uns nachts davon abhält einzuschlafen.
Entweder geht es dabei um das Wiederkäuen vergangener Erlebnisse. Dabei spielen wir wieder und wieder etwas durch und machen uns damit selbst verrückt. Oder wir machen uns Sorgen um etwas in der Zukunft, wie um ein anstehendes Bewerbungsgespräch.
Hier handelt es sich um Erinnerungen, die dein Gehirn und dich belasten und dir Energie rauben. Aktiv vergessen kann dir in solchen Situationen dabei helfen, dieses negative Gedankenkarussell zu stoppen. Man könnte es auch „Loslassen“ nennen.
Eine Methode, um so aktiv zu vergessen, ist Ablenkung.
Das klingt banal, ist aber sehr effektiv. Das muss nichts Tiefsinniges sein. Ein netter Abend mit Freunden, ein schöner Spaziergang oder einen Kaffee in deinem Lieblingscafé trinken sind neue, angenehme Einflüsse, die dein Gehirn ablenken und mit positiven neuen Erinnerungen versorgen.
Du kannst auch bewusst versuchen, über negative alte Erlebnisse, neue positive Erlebnisse zu legen.
Erinnert dich ein Ort an ein unangenehmes Erlebnis? Dann schaffe hier ganz bewusst neue, angenehme Erinnerungen. So trainierst du tatsächlich dein Gehirn dazu, die alten negativen Erinnerungen mit den positiven Erfahrungen auszutauschen.
Auch Meditationsübungen helfen dabei, Gedanken bewusster zu steuern und in neue, positive Bahnen zu lenken.
All diese Methoden sind weder ein Patentrezept, noch wissenschaftlich wirklich fundierte Verfahren. Die Forschung steht in diesem Bereich schließlich noch am Anfang. Auch ist es natürlich fraglich, dass diese Tipps dir mit schweren Traumata helfen.
Wenn dich Dinge wirklich stark belasten, ist es daher sicherlich ratsam, dir professionelle Hilfe zu suchen. Doch wenn es um die typischen Stressfaktoren im Alltag geht, ist aktiv vergessen einen Versuch wert.
Zum Weiterlesen
- Künstliche Intelligenz: Wie bringt man einer KI das Vergessen bei?
- Warum auch künstliche Gehirne Schlaf benötigen
- Warum die Atmung die effektivste Methode ist, um Stress abzubauen
- Stress im Büro: Wie dir ein „dritter Raum“ beim Abschalten hilft
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